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Mittwoch, 3. September 2014

Zeichen für die Gegenwart und das Wirken der Nagas

Zeichen für die Gegenwart und das Wirken der Nagas

© Oliver Ohanecian

Worte formen unsere Welt. Sie beschreiben uns, was die Wirklichkeit sei und lenken unsere Wahrnehmung. Wir formen Worte zu Sätzen und Sätze zu Erzählungen. Unsere Wahrnehmung wird bestimmt von unserem Glauben an Erzählungen darüber, was die Wirklichkeit sei. So ist ein jeder von uns Teil der Geschichte, die wir uns gegenseitig von der Menschheit erzählen. Unsere Erzählung hat zu weiten Teilen einen ungemein anthropozentrischen Zug angenommen. Doch hinter den Fassaden der gängigen Wirklichkeitsbeschreibungen gibt es andere, nichtmenschliche Welten, die sich unserem selbstherrlichen Blick auf das Dasein entziehen. Wir kommen in unserem Sein und Handeln mit ihnen in Berührung und sie reagieren auf uns, doch sind wir uns dessen meist nicht bewusst.

Von klein auf werden wir von der überaus schlechten Angewohnheit geprägt, uns als Herrscher einer Welt zu erleben, in die wir mit unserer Geburt hineingeworfen wurden und von der wir auf seltsame Weise getrennt zu sein scheinen. Hier stehen wir vor einem großen Haufen Materie, den wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse nutzen. Die Welt erscheint als eine Ansammlung von Ressourcen zu unserem persönlichen Gebrauch: Öl, Kohle und all die anderen Rohstoffe, mit denen wir unsere virtuelle Realität – wir nennen sie Zivilisation – füttern, sie am Leben erhalten und weiter wachsen lassen. Eine durch und durch künstliche Welt, die die seiende Welt aufzufressen droht, angetrieben von der Annahme, im Besitz jener angeborenen Herrschernatur zu sein, die uns innerhalb einer von uns selbst aufgestellten Hierarchie über den Planeten und die anderen Wesen stellt. Innerhalb der menschlichen Gesellschaften auch über die Mitmenschen, in scheinbarer Widerspiegelung der vermeintlich natürlichen Ordnung. Die virtuellen Wirklichkeiten sind beherrscht von der Gier nach virtuellen Werten, deren Anhäufung Macht innerhalb der künstlichen Hierarchien verspricht. Diese auf Gier und Selbstsucht gegründete Macht ist zu weiten Teilen die Befähigung zu sinnlosem Handeln und die Fähigkeit, andere Menschen und neue Generationen in einen Strudel aus Sinnlosigkeit zu zwingen. Es ist ein Handeln, das dem Machterhalt dient oder, schlimmstenfalls, dem einzigen Grundsatz eines selbstsüchtigen und zynischen Nihilismus folgt, Dinge nur deshalb zu tun, weil man sie eben tun kann.

Leider ist dieses Kapitel, das wir uns von unserem Menschsein erzählen, ungeheuer laut, schrill und aufdringlich, so dass es vielen Menschen allein deshalb sehr überzeugend erscheint. Und so werden solche Erzählungen, die eine ganz andere Geschichte erzählen, von Stargeglitzer, Stylingfragen, Börsennews und Kriegsgerassel nur allzu oft übertönt. Aber es gibt sie.



Der Mensch im Gewebe abhängigen Entstehens

Neben unendlich vielen hässlichen Zügen hat die Globalisierung heute ein Gutes: Die letzten Vertreter jener alten Weltanschauungen, die den Menschen nicht zum Weltenherrscher erheben, sondern als Teil eines lebendigen Ganzen betrachten, stehen heute in regem Kontakt und Austausch miteinander. Zu diesen Weltanschauungen gehört auch der Buddhismus und insbesondere der vor allem in Tibet praktizierte Vajrayana, der gute Beziehungen zu verschiedenen indigenen Völkern Amerikas und Australiens unterhält.

Die Sichtweise des Vajrayana-Buddhismus zeigt die Welt als einen Tanz der Elementarenergien, in dem die verschiedenen Erscheinungen der Welt in gegenseitiger Abhängigkeit entstehen und vergehen. In dieser Sichtweise spielt der Sanskritterminus Shunyata eine herausragende Rolle. Er setzt sich zusammen aus dem Wort shunya, was "leer", "offen", "inhaltlos" und "nichts" bedeutet, mit dem Suffix -ta, was als "-heit" oder "-keit" übersetzt wird. Shunyata ist die Leerheit, die Offenheit, die Nicht-Dingheit der Phänomene. Dies meint nicht, wie es im Westen oft falsch interpretiert wurde und wird, dass hier von einem Vakuum oder einem Nichts die Rede ist. Vielmehr muss eine passende Gegenfrage lauten: Leerheit von was? Es ist die Leerheit von Begriffen, geistigen Konstruktionen und Projektionen. Leerheit ist das, was ist, nur frei von Begriffen, Kategorien, Wertungen etc. Der Mensch gehört zu den empfindenden Wesen und ist als solches ebenfalls leer, d.h. offen und dynamisch, ein Ornament im Gewebe der Welt und untrennbar mit ihr verbunden; zusammengesetzt, gleichsam im Raum kondensiert aus ihren lebendigen Elementen und in unentwegter Bewegung, bis sich die Verbindung der Elemente wieder auflöst.

Dieser große Tanz der Elemente ist geistiger Natur, er spielt sich innerhalb des allumfassenden Geistes, der Buddhanatur, ab, und als verblendete Wesen, die infiziert sind von der Wahnvorstellung, unabhängig als ein geschlossenes Selbst zu existieren, sind wir blind dafür. Erwachen wir aber und sind in Harmonie mit dem Tanz der Elemente, so tritt uns aus den Wesen und Erscheinungen das Strahlen der verborgenen Buddhanatur entgegen, die sie alle gleichermaßen verbindet. Die Welt ist dann nicht länger irgendein Ort, der ausgebeutet werden kann, sondern die unentwegte Manifestation des Heiligen. Indem wir auf die Erscheinungen der Welt schauen, sind wir Geist, der sich selbst betrachtet.

Dieses große, geheimnisvolle Gewebe ist nach buddhistischer Auffassung noch von weiteren empfindenden Wesen bevölkert – viele davon für uns unsichtbar - , die zum Teil sehr machtvoll auf die Menschenwelt einwirken können. Zu diesen machtvollen Wesen gehört auch die Klasse der Nagas. „Naga“ ist ein Sankritbegriff mit der Bedeutung „Schlange“. In diesem Zusammenhang ist es jedoch ein Oberbegriff, der drei Arten von Wesen zusammenfasst, auf Tibetisch Sadag, Lu und Nyen. „Sadag“ bedeutet Herrscher der Erde oder Erdherrscher (sa = Erde; dag = Herrscher), d.h. Wesen, die den Erdboden bewohnen. „Lu“ herrschen über die Gewässer und „Nyen“ bewegen sich über der Erde in den Lüften und bewohnen die Atmosphäre, Wiesen und Wälder.

Für uns Menschen sind die Nagas von besonderer Bedeutung, weil wir ständig mit ihnen interagieren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Die meisten von ihnen sind, genau wie wir Menschen, keine erleuchteten Wesen und daher verletzlich, bisweilen auch feindselig. Indem wir unachtsam und selbstsüchtig handeln, verletzen wir ihre Daseinssphäre, schwächen sie und machen sie krank. Im Gegenzug senden sie uns Krankheiten, Naturkatastrophen u.ä. Aus diesem Grund gilt es im Vajrayana als wichtig, eine gute Beziehung zu den Nagas aufzubauen. Dies kann im Rahmen verschiedener Rituale geschehen, die alle verschiedenen Klassen machtvoller Wesen anrufen, es kann sich aber auch direkt an die Nagas richten. Dabei sind viele Regeln zu beachten, etwa der richtige Zeitpunkt oder welcher Art das Räucherwerk und die Opfergaben sind. Die wichtigste Regel aber betrifft die Kommunikation: Als Menschen können wir nicht mit den Nagas und ihren Königen kommunizieren, wir müssen uns in eine überweltliche Buddhagottheit transformieren, damit diese Kommunikation gelingen kann. Als Menschen unterscheiden wir uns von den Nagas und sind von ihnen getrennt, die Buddhagottheit hingegen ist das Verbindende und Gemeinsame. Sie ist eine Erscheinungsform der Buddhanatur, die gleichermaßen allem innewohnt. Kommunikation beginnt also dort, wo wir den Geisteszustand der ego- und anthropozentrischen Trennung hinter uns lassen und uns mit dem Absoluten verbinden.

Haben wir die Initiation in eine solche Gottheit erhalten und in der Praxis erste Verwirklichungen erlangt, so können wir in die Kommunikation mit den Nagas eintreten. Es können sodann unterschiedliche äußere, innere und geheime Zeichen auftreten, die die Anwesenheit der Nagas kennzeichnen. U.a. hat Machik Labdrön, eine der größten Meisterinnen des Vajrayana, einige der visionären Zeichen beschrieben, die beim Erscheinen der Nagas auftreten können.

Äußere Zeichen

Träume von Spinnen, Skorpionen, Ameisen, Käfern, Fischen, Fröschen, Schlangen oder Kaulquappen, die den Anschein erwecken, als würden sie in dem Augenblick wirklich erscheinen. Auch erscheinen viele Dzo1 und Rinder, die sich in Herden versammeln. Sie sehen einen an, als erwarteten sie etwas oder als würden sie einen hüten oder gehütet werden. Es erscheinen auch Bettler, die schmutzig, blind und leprös sind, und betteln einen an. Man findet sich in einer sehr schmutzigen Umgebung oder Leute errichten ein Lager, ziehen eine Straße entlang oder errichten viele Lager, bilden Eskorten, laden kostbare Waren auf oder ab. Sie alle sind streitsüchtig und man debattiert mit ihnen oder man befindet sich unter ihnen oder man hilft dabei, sich um sie zu kümmern. Es können auch einfach leere Nomadenzelte erscheinen oder solche die aus Nebel geformt sind.

Innere Zeichen

Visionen von schwarzen Spinnen und Skorpionen oder Ameisen, Käfern, Ottern oder fischartigen Hündinnen, die wie Regen herabfallen, den Boden bedecken und am eigenen Körper haften. Sie sind groß wie Welpen, die gerade ihre Augen geöffnet haben, und extrem nass und kalt. Sie nur zu sehen ist höchst unerfreulich und furchteinflößend. Auch erscheinen Frösche, Skorpione, Fische, Kaulquappen, Eidechsen von der Größe junger Bullen u.ä. mit weit geöffneten Mäulern, als seien sie bereit, zu fressen. Sie erscheinen einzeln oder paarweise, die Körper in Nebel gehüllt, in dem sich leichte Wassertröpfchen formen.Auch erscheinen sie als riesige Schlangen in vielerlei Farben, von denen einige giftigen Dampf absondern. Manche haben feurige Mähnen und verströmen viele verschiedene Krankheiten. Sie können aber auch erscheinen wie Kinder von etwa acht Jahren, die unterhalb der Brust einen Schlangenkörper haben, in Nebel gehüllt sind und einen giftigen Dampf absondern.

Geheime Zeichen

Große Seen, von denen Dampf aufsteigt, umstanden von vielerlei Bäumen. Viele kleine Tümpel in verschiedenen Farben, die Plätschern, wenn sie sich berühren. Große Flüsse, die sich umströmen und dabei wogen und plätschern wie Seen. Gewaltige Seen, soweit das Auge reicht, von denen Licht strahlt und regenbogenfarbige Dämpfe aufsteigen.

Derartige Bilder und Szenerien in Träumen und Visionen sind Indikatoren dafür, dass ein Kontakt zustande gekommen ist. Mit Hilfe der erforderlichen Riten, Mudras und Mantras können die Verbindung und die Kommunikation nun vertieft werden. Nagas gelten als Hüter vieler geistiger und materieller Schätze und Lehren. Eine gute Verbindung zu ihnen bewahrt vor Naga-Krankheiten und bewirkt ihre Unterstützung in der spirituellen Praxis, wie auch in der Bewältigung der ganz alltäglichen Probleme.

Donnerstag, 1. August 2013

Von Bommelkissen und Lackhosen – ein Dialog unter Freunden

Von Sati und Uhanek


Sati: Tantra… das erste Mal hörte ich davon Anfang der 80er. Also ich bin mir ziemlich sicher, es war Anfang der 80er, weil ich mich noch gut erinnere, dass ich hoffte, dass meine Mutter nicht zur Tür reinplatzt und mitkriegt, was ich mir da gerade im Fernsehen ansah. Dort saß nämlich ein zotteliger, leicht ausgemergelter Vegetarier mit zwei Frauen und erzählte was über Polygamie und eben "Tantra". Die eine von den beiden Frauen, eine großbusige, spärlich bekleidete Dunkelhaarige, hatte so einen komischen Punkt auf der Stirn und poste die ganze Zeit in die Kamera, während der Zottel im Schneidersitz und ebenfalls halbnackt über Besitzdenken in Beziehungen referierte. Die andere Frau, eine blasse Blondine, hat in ihrer Unscheinbarkeit kaum eine Chance gegen die Dunkelhaarige, zumal man sie in einem 80er-Jahre-Schulterpolsterblazer genauso gut für eine Bankangestellte hätte halten können. Da half auch das durchsichtige Blüschen nicht.

Uhanek: Ach Gott, ja, an diese Art … nennen wir es mal „Neo-Tantra“-Präsentationen (böse Zungen sprechen ja zuweilen u.a. auch vom Swinger-Tantra) erinnere ich mich auch gut. Es gab da einen Herrn in Berlin, der gern für seine „Tantra-Kurse“ warb, indem er sich den Fernsehkameras nackt oder im knappen String-Tanga präsentierte, das lange Haar oberhalb der Ohren zu einem mit roten Bändern umwickelten Zopf gebunden. Vor ein paar Jahren schenkte mir ein äußerst spöttisch veranlagter Freund aus Berlin sogar mal eine DVD dieses „Tantrikers“ - falls ich mal ein wenig Erheiterung bräuchte.

Meine eigene Begegnung mit dem Begriff „Tantra“ fand Anfang der achtziger Jahre in Gestalt eines reich bebilderten, ganz ausgezeichneten Buches über tantrische Lehren des Hinduismus statt. Ich hatte bereits seit meiner Kindheit eine starke Affinität für Buddhismus, Hinduismus und allgemein indische Kultur und Religionsgeschichte. Dementsprechend befremdlich erschienen mir von Anfang die Publikationen (oder darf man an dieser Stelle ruhig von „Ergüssen“ sprechen...?) insbesondere aus Osho-Kreisen, die unter dem Begriff „Tantra“ im Wesentlichen über kosmische Orgasmen fabulierten.

Sati: Ich stolperte einige Jahre später wieder über den Begriff Tantra. Ich war um die 16 und entdeckte gerade meine Leidenschaft für Okkultimus und die Gothic-Szene. Ich hatte eine Brieffreundin aus Norddeutschland, die mir immer von schwarzen Messen berichtete, von Sexualmagie, nächtlichen Friedhoftouren und von Aleister Crowley. Ich glaube meine Mutter weiss bis heute nicht, was das für Bücher waren, die ich mir so sehnlichst gewünscht hatte und regelrecht verschlang. Irgendwo las ich dann was von "Tantra" und Sexualmagie und da es damals weder Internet gab noch jemanden den ich als wohlbehütete Akademikertochter fragen konnte, dachte ich, Sexualmagie ist wohl die deutsche Übersetzung von "Tantra".

Uhanek: „Sexualmagie“ ist ein schönes Stichwort. Unter dem Begriff finden sich großartig absurde Verzerrungen des Tantra-Begriffes. Ich hatte in einem sehr umfangreichen Archiv hier in Göttingen Gelegenheit, ziemlich viele interne Texte diverser Logen zu dieser Thematik zu lesen. Die meisten dieser Texte waren zusammengestückelt aus Versatzstücken hinduistischer und buddhistischer Tantra-Lehren, mit einem Schuss taoistischer Alchemie hier und dort. Bei vielen dieser Versatzstücke kannte ich die ursprünglichen Quellen und es war ganz interessant zu lesen, welche Verzerrungen sie durchlaufen hatten, um sie den machtlüsternen Fantasien ihrer Interpreten der „westlichen Tradition“ anzupassen. Letztlich waren derlei Deutungen fast noch komischer als die der Swinger-Tantriker, weil sie sich selbst noch sehr viel wichtiger nahmen.

In den 80ern hatte ich auch so einen Faible für Postpunk und Gothic. In der Szene wurde ja gerne mit okkultistischen Symbolen kokettiert, zumal es damals, ausgehend von Amerika, ja auch so eine leichte Okkultismus-Satanismus-Hysterie gab, die hinter jedem Pentagramm und jeder dahingeschmierten 666 den Teufel witterte. In den Grupppen, zu denen ich damals Kontakt hatte, wurden verschiedene Texte ganz unterschiedlicher esoterischer und okkultistischer Strömungen herumgereicht. Da fand man dann Starhawk neben LaVeys satanischer Bibel und natürlich Crowleys Texte. In der so zusammengerührten „Magie-Suppe“ durfte natürlich auch die Sexualmagie und viel Gerede über Tantra und Chakren nicht fehlen.

Sati: Ich wuchs also immer mehr in die Gothic-Szene hinein und tatsächlich gab es auch bei uns einige, die dem Okkultismus recht zugetan waren, und manche behaupteten auch von sich, Sexualmagie zu praktizieren. Das waren dann meistens jene, die irgendwann ihre Spitzenhemden und Samtröcke gegen Lackhosen, High Heels und Lederschlauchkleider eintauschten. Auch mir gefiel dieser Klamottenstil sehr und ich erinner mich noch gut daran, als ich meine erste Lackhose für damals 80 Mark kaufte, was ein Vermögen angesichts meines Taschengeldes darstellte. Nicht dass jetzt Lackhosen grundsätzlich was mit Tantra zu tun hätten, aber in meinem Fall schon. Dazu später mehr…

Uhanek: Ich mochte das ja auch. Und ich habe mir damals auch gern mein silbernes Okkultgebamsel um den Hals gehängt. Machte sich ja gut auf den schwarzen Klamotten.

Sati: In meiner Gothic-Zeit lernte ich meine damals beste Freundin kennen, die der fernöstlichen Spiritualität sehr zugetan war. Auch sie sprach von "Tantra" oder "Kama Sutra" und ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, was sie damit assoziierte, nämlich in wallenden Saris herum zu hüpfen, Räucherstäbchen abzufackeln und die neusten Kniffe aus ihren Massageseminaren an mir auszuprobieren, was mir außerordentlich gefiel. Was mir weniger gefiel war, dass sie das auch immer an Kerlen ausprobieren musste, in die sie gerade verknallt war. Das weiß ich, weil sie einmal wollte, dass ich mitmache. Ich muss sagen, ich fand es äußerst befremdlich einem fremden Mann, den ich zudem auch noch ziemlich unspektakulär fand, die haarigen Beine einzuölen. Irgendwann verließ ich die beiden und erfuhr hinterher, dass wohl nichts mehr gelaufen war. Das war also auch Tantra…

Diese Freundin lernte bald darauf ihren zukünftigen Mann kennen, der ebenfalls der Fernost-Spiritualität zugetan wie auch "Tantra"-erfahren war. Das sah dann in erster Linie so aus, dass er mir dauernd an die Wäsche wollte und behauptete mich ebenfalls "auf eine universelle Weise" zu lieben, nachdem er meine Freundin versehentlich geschwängert hatte. Die beiden gründeten nach ihrer Hochzeit eine "spirituelle Gemeinschaft" und bezogen ein großes Bauernhaus im Voralpenland als das Kind kam. Ich besuchte die kleine Familie einzweimal dort und erinnere mich noch gut, dass das kleine Mädchen beim Mittagessen ihren Rock hochhob und zu mir meinte "Guck mal das ist meine Klitoris." Als ich völlig entsetzt zu meiner Freundin blickte, meinte sie lächelnd zu mir "Wir wollen dass sie ohne körperliche Tabus aufwächst." Aaah ja… das war dann also auch "Tantra". Ihr Mann wollte mir übrigens immer noch an die Wäsche und versuchte mich mit widerlichen kleinen Psychospielchen meine "Sinnlichkeit" zum Fließen zu bringen, was ihm nicht gelang, denn ich stand immer noch auf Männer mit schwarzen Lackhosen, Doc Martens und ausrasierten Schläfen. Ich beschloss mich von alldem zu distanzieren...

Ein paar Jahre später las ich in einer großen deutschen Esoterik-Zeitschrift einen Bekennerbericht einer Frau, die von ihrem Guru sexuell missbraucht worden war. Der Sitz der spirituellen Kommune, den diese Frau als "Tatort" angab, stimmte ziemlich genau mit dem letzten Wohnsitz meiner Freundin überein. Die betroffene Frau, die in ihrer Kindheit langjährigen sexuellen Missbrauch erlebt hatte, schilderte wie ihr "Guru" ihr verklickerte, dass sie ihr "Karma" nur auflösen könne, wenn sie ihm zu Willen sei - gefolgt von anatomisch genauen Angaben, wie dies von Statten zu gehen hatte. Irgendwo trieb ich die Mailadresse von meiner Freundin auf und schrieb ihr von diesem Bericht. Die News waren dort wohl schon längst angekommen, denn ich platze mitten in einen großen Ehekrach. Mit Spiritualität hatte das alles nicht mehr viel zu tun…

Uhanek: Diese Verzerrungen des Tantra-Begriffes tragen im Grunde ja immer den Missbrauch in sich, kommt mir vor. Vielleicht hat das mit dieser unsäglichen, selbstgefälligen Ignoranz zu tun, die sich an fremden Kulturen bedient und ganz beliebig die aus ihrem Kontext gerissenen Versatzstücke fremdkultureller philosophischer Lehren und Praktiken, religiöser Kultformen, mystischer Vorstellungen u.ä. dem eigenen Ego anpassen. Oft scheint es wirklich nichts anderes als reiner Egokult und blanke Nabelschau zu sein.

Sati: Um noch mal zu den Lackhosen zurückzukehren… Gothicmode war damals sehr kostspielig und durch meine Großmutter mit einem Talent fürs Schneiderhandwerk gesegnet fing ich früh an meine Kleidung selbst herzustellen, was irgendwann soweit ging, dass ich mein eigenes Atelier für Schnürkorsetts eröffnete. Doch, doch ich bin immer noch bei Tantra! Irgendwann hatte ich mal eine Lieferung an einen benachbarten Swingerclub, der eine meiner Kreationen während einer Swingerparty verlosen wollte. Als ich am späten Nachmittag vor der Veranstaltung dort auftauchte, war man gerade mitten in den Vorbereitungen. Natürlich gab es auch einen Räucherstäbchen bestückten Raum für "Tantra", der ein bisschen aussah wie ein chinesisches Restaurant bei dem man die Tische gegen ein Kingsize Bett mit vielen Bommelkissen eingetauscht hatte

Uhanek: Ach, da sind wir also beim Swingerclub angekommen...

Sati: In der Korsettszene lernte ich außerdem eine Frau kennen, die nicht nur Korsettliebhaberin sondern auch Philosophie-Dozentin an der Uni war. Eines ihrer Wissensgebiete war so einer Art "philosophische Sexualwissenschaften", das heißt sie erforschte Sexualität in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Sie erklärte mir dass man über Tantra zu einer heilen Sexualität finden könne und dass dies in westlichen Kulturen aufgrund der christlichen Prägung nur schwerlich möglich sei, da die westliche Sexualität vor allem von Machtspielchen geprägt sei, die in der BDSM Szene besonders pervertiert worden seien. Sie nannte derartige Spiele "moderne Sklaverei".

Ich habe immer noch keine Ahnung von Tantra. Ich denke aber, dass ich inzwischen ziemlich genau weiß, was es nicht ist. Das was ich unter diesem Label kennengelernt habe, fand ich meist für einen kurzen Zeitraum auf eine gruselige Art spannend, aber nie wirklich interessant, weil es mir immer wie eine groteske Inszenierung von etwas vorkam, dass eigentlich keinerlei Inszenierung bedarf. Ich liebe Bommelkissen, ich habe ein beachtliche Sammlung an Lederstiefeln und einen Sari hab ich mir kürzlich auch zugelegt. Aber jetzt möchte ich wirklich gerne mal hören, was Tantra eigentlich wirklich ist.

Uhanek: Dieses ganze Gerede über den „kosmischen Orgasmus“, „Sexualmagie“ u.ä. ist natürlich Blödsinn und hat in der Regel mit Tantra wenn überhaupt, dann nur sehr wenig zu tun. Man kann halt von „Neotantra“ oder „Esotantra“ oder von mir aus auch von „Wellnesstantra“ sprechen. Es werden heutzutage einfach gerne irgendwelche Begriffe aufgegriffen und so zurechtinterpretiert, wie es den Wunschträumen und Bedürfnissen der Angehörigen unserer Gesellschaft entspricht.

Sati: Das ist ja gerade in der Eso- und Spirituellen Szene recht häufig anzutreffen... nicht nur auf buddhistische Inhalte bezogen...

Uhanek: Klar, das ist dann ein eigenständiges und recht weit verbreitetes Phänomen westlicher Kulturen, neben Neuheidentümern, neuen Hexen, der „neuen Spiritualität“ christlich evangelikaler Gruppen etc. Was häufig hinter diesen verschiedenen Begriffen steckt, unterscheidet sich kaum voneinander und ist inhaltlich im Grunde alles ein Abwasch. Eins von vielen Phänomenen der postmodernen Gesellschaft. Und meist geht es darum, den Wunsch nach narzisstischer Selbstbespiegelung zu bedienen. Der übliche Blödsinn: An sich ganz durchschnittliche Mitglieder dieser Gesellschaft wollen irgendwie anders sein als Mutti und Vati, bedienen sich daher bestimmter Begriffe, die sie mit diesem Anders-Sein assoziieren und betreiben inhaltlich am Ende doch nur eine Apologetik eben jener Durchschnittlichkeit, von der sie sich doch so sehnlich hatten abheben wollen.

Sati: Das erinnert mich jetzt fast wieder ein bisschen an die Punk/Gothic-Szene (nur die hatten einfach die cooleren Outfits...). Erst kürzlich habe ich einige Leute wiedergetroffen, die damals noch mit viel Mühe "anders" sein wollten und es ist beinahe lustig, wie angepasst und konservativ die meisten von ihnen heute sind. Job, Familie, Auto, Anzug, statt kollektivem Besäufnis Dinner-Partys mit Freunden...

Uhanek: Die Übergänge zwischen diesen Szenen – Gothic, Okkultismus, Neuheidentum, Hexen, Mittelalter, Rollenspiel - sind oft recht fließend und der Umgang mit der „Spiritualität“ oft geprägt durch Selbstdarstellung und Oberflächlichkeit. Eigentlich ist es traurig. Aber vielleicht ja auch ganz interessant, weil solche Dinge dann halt in vielerlei Hinsicht den Zustand unserer Gesellschaft widerspiegeln. Den Grad des Verfalls. Spirituell ernst zu nehmende Persönlichkeiten bilden in diesen „westlichen Wegen“ eher die Ausnahme, scheint mir. Einigen wenigen bin ich aber begegnet...

Sati: Solche, die das von sich zumindest behaupten, gibt's ja mehr als genug und die Nachfrage scheint ziemlich groß zu sein. Vielleicht ist der Anstrich nicht mehr ganz so "spirituell" wie noch vor 10-20 Jahren. Heute schmeißt man mit ein paar gesundheitlichen Schlagwörtern um sich und behauptet Krebs oder AIDS heilen können. Und ich staune immer sehr, was für einen unglaublichen Ansturm solche Leute haben...

Uhanek: Derlei esoterische Tunichtgute sind ja leider Legion. Das lässt mich jetzt spontan an einen solchen denken, der in der buddhistischen Szene sein Unwesen treibt und sich seit ein paar Jahren als wundertätiger buddhistischer Ngakpa-Lama ausgibt. Mit magischen Heilversuchen und magischen Börsenspekulationen ist es ihm im Laufe der Jahre bereits recht erfolgreich gelungen, ganz gehörig Unheil zu stiften. Es gelingt ihm immer wieder, „Schüler“ mit Methoden, wie man sie aus Psychokulten kennt, eine Zeit lang an sich zu binden. Er erzählt den Leuten dann, dass sie von Dämonen besessen seien oder dass die Schützer der buddhistischen Lehre auf sie wütend seien, wenn sie nicht machen, was dieser Guru von eigenen Gnaden ihnen sagt. Da steht man immer ganz fassungslos davor und fragt sich, was eigentlich schlimmer ist: Dass es solche skrupellosen Hochstapler überhaupt gibt oder dass immer wieder Menschen ganz grenzenlos naiv auf derartige Scharlatane hereinfallen?

Das ist natürlich ein Extremfall. Sicherlich meinen die meisten Leute es durchaus gut. Wir leben in einer so offensichtlich kranken, verrückten und von einem geistig-kulturellen Krebs zerfressenen Gesellschaft, dass es nicht verwunderlich ist, wenn sich Menschen auf die Suche nach Auswegen machen. Nur leider geschieht dies oft auf eine Weise, in der die grundlegenden Denk- und Sichtweisen dieser Gesellschaft gar nicht in Frage gestellt werden. So verbleiben die Suchenden oft einfach in dem Gefängnis, dem sie doch entfliehen möchten. Eine der wichtigsten Fesseln bildet dabei das Haften an oberflächlichen Begriffen und Konzepten. Da werden dann eben exotisch anmutende Begriffe ins Spiel gebracht und innerhalb der herrschenden Denkmuster und Wirklichkeitsvorstellungen interpretiert. So bleibt alles beim Alten, nur mit etwas neuer Tünche und aufgefrischtem Make Up.

Sati: Kannst Du bitte einmal erklären, was man unter Tantra nun wirklich versteht?

Uhanek: Der Begriff „Tantra“ bedeutet „Gewebe“, „Zusammenhang“, „Kontinuum“. Es gibt hinduistische und buddhistische Tantra-Traditionen. In vielen Publikationen wird behauptet, die tantrische Überlieferung des Buddhismus habe sich aus der hinduistischen entwickelt, was aber eigentlich gar nicht so sicher zu sein scheint. Im Wesentlichen spiegeln solche Aussagen wohl den europäischen Wunsch wieder, die Welt in linearen Abfolgen denken und deuten zu wollen. Relevant für uns ist, dass es mehrere tantrische Überlieferungen mit unterschiedlichen inhaltlichen und methodischen Schwerpunktsetzungen gibt. Die tantrischen Traditionen speisen sich aus verschiedenen Quellen des mittelalterlichen Indiens, die neue, nicht-vedische Rituale einführten. Allen ist gemeinsam, dass ihre Lehren die Einheit des Relativen und des Absoluten betonen, also die letztliche Identität von phänomenaler Welt und höchster, absoluter Wirklichkeit. Das Ziel dieser Lehren besteht dementsprechend in der Einswerdung mit dem Absoluten und der Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit.

Sati: Wie kommt es dann zu diesem... sagen wir mal "schlüpfrigen" Image von Tantra? Und vor allem wie passt das in einen buddhistischen Kontext? Ich dachte immer der Buddhismus hat viel mit Askese zu tun? Außerdem hab mich schon über den nicht-vegetarischen Inhalt Deines Kühlschranks gewundert...

Uhanek: Es gibt immer wieder Westler mit sonderbaren Vorstellungen, viel bruchstückhaftem Wissen und sehr viel selbstgefälliger Ignoranz, die im Brustton der Überzeugung zum Teil höchst sonderbare Vorstellungen über einen „reinen“ Buddhismus verbreiten. Dabei wird dann meist das Geschreibe anderer kenntnisfreier westlicher Autoren wiedergekäut. So erscheint dann der Gedanke, es könne einen tantrischen Buddhismus geben natürlich leicht als ein Widerspruch in sich, weil ja vermeintlich alle Buddhisten weltverneinende und asketische lächelnde Vegetarier seien; Tantra hingegen habe doch eher mit sexueller Extase und Zauberei zu tun. Wer diesen Blödsinn für bare Münze hält ist dann auch leicht mal sehr offen für völlig absurde „Enthüllungen“ gewisser Autoren, die ganz genau zu wissen glauben, dass das einzig wahre Heil in der Krone der menschlichen Entwicklung liegt, nämlich den westlichen Gesellschaften der Gegenwart mit ihren auf breiter Ebene akzeptierten dogmatischen Beschreibungen dessen, was die Wirklichkeit sei. Was davon abweicht ist natürlich gefährlich. Und so werden leicht die Ergüsse primitivster Propaganda unters Volk gebracht: Der Dalai Lama betreibe Sexualmagie, raube dabei Frauen ihre Gynergie - eine eigens von den Autoren erfundene geschlechtsspezifische Energieform, die geraubt werden kann und offenbar vor dem Hintergrund bevorzugter Geschlechtervorstellungen vielen Leuten plausibel erscheint – und strebt mittels finsterer Mächte die Weltherrschaft an. Und wem der Dalai Lama als Urvater Darth Vaders und der finsteren Sith denn doch eine Spur zu fantasievoll ist, der kann sich von den höchst primitiven faschistoiden Hetzschriften eines gewissen deutschen Psychologen darüber aufklären lassen, dass die „Scheiße fressenden Tibeter“ uns edle Westler in seelische Krüppel verwandeln wollen, allen voran ihr grinsender „Gottkönig“, der Dalai Lama.

Das hat natürlich auch alles nichts mit Tantra, Buddhismus und Tibet zu tun, eher mit einer Psychopathologie westlicher Mentalitäten.

Sati: Ok, dann frage ich einfach mal ganz unverblümt: Was macht man denn tatsächlich, wenn man Tantra praktiziert? Und jetzt leg mal die Karten auf den Tisch, Uhanek! Ich will alles wissen!!

Uhanek: Tantra dient der Untersuchung und Auslotung des Geistes. Tantra ist der Pfad der Transformation. Transformiert wird hierbei die begrenzte relative Erfahrungswelt des gewöhnlichen Individuums in die Erfahrung des absoluten Bewusstseins und der von ihm erlebten höchsten Wirklichkeit. Im mittelalterlichen Indien konnten auch Könige, die aus niederen Kasten oder nicht aus Indien stammten, durch tantrische Riten legitimiert werden. Sie wurden dann gewissermaßen vom falschen Stand in die Königswürde transformiert - eine soziale und politische Transformation also. So war das im mittelalterlichen Indien. Für uns hat das Prinzip der Transformation eine andere Bedeutung. Wir haben es im Grunde mit mehreren Arten der Transformation zu tun. Wir werden als Tantriker von einem gewöhnlichen, von Illusionen und negativen Emotionen getriebenen Wesen durch die tantrische Ermächtigung in ein reines, erleuchtetes Wesen transformiert, indem uns auf symbolische Weise die uns innewohnende Buddhanatur aufgezeigt wird. Als praktizierende Tantriker transformieren wir dann mit unterschiedlichen Methoden unsere negativen Emotionen, all unsere Geistesgifte und Illusionen in die uns eigene ursprüngliche Weisheit. Auf diese Weise wird der Geist von seinen wahnhaften Vorstellungen gereinigt, erlangt die Erkenntnis der Leerheit und verwirklicht den Zustand der Erleuchtung.

Das klingt natürlich alles zunächst mal ziemlich abstrakt und gibt dadurch auch gern einmal Anlass zu allerlei sonderbaren Verdrehungen. Die berühmte buddhistische Leerheit wird ja bis heute immer wieder mal ganz gerne von manchen Autoren als „Nichts“ gedeutet. Eine andere ganz lustige Interpretation lieferte mir vor einiger Zeit ein junger Okkultist. Er hatte unter dem Vorwand, Fragen zu bestimmten Aspekten des Buddhismus zu haben, um ein persönliches Gespräch gebeten. So saß ich denn schließlich in meiner Küche einem blassen, anorektischen jungen Mann gegenüber, der mich nach einigen wenigen Fragen zum Buddhismus, die er sich sehr schnell mit Hilfe von Wikipedia und Google selbst hätte beantworten können, mit einer nicht enden wollenden großspurigen Selbstdarstellung zu beeindrucken versuchte. Nachdem ich in gut anderthalb Stunden von ihm erfuhr, dass er ein überragender Magier, ein tiefgründiger Wissender, ein Mystiker der Sonderklasse und quasi so gut wie erleuchtet sei, fragte er mich, ob man denn, wenn man die Erleuchtung erreicht habe, hier bleiben müsse, also gewissermaßen seine Zeit in dieser Welt trotz guter Führung mit abschließender Erleuchtung dann noch absitzen müsse. Dies ist eine Frage, die in ihrer dualistischen Spaltung und Wertung sehr weit von den buddhistischen Sichtweisen auf die Welt und der Bedeutung des im Buddhismus angestrebten Zustandes der Erleuchtung entfernt ist. Als ich daraufhin fragte, ob er denn schon einmal von dem für buddhistisches Denken sehr zentralen Leerheitsbegriff gehört habe und was das seiner Ansicht nach sei, erklärte er mir, ja, für ihn bedeute Leerheit, wenn der Kopf leer sei. In dem Punkt konnte ich nach allem, was ich zuvor zu hören bekommen hatte, nicht umhin, ihm tatsächlich zu glauben, dass er über einen sehr großen Erfahrungsschatz verfügte.

Sati: Also wenn ein leerer Kopf sowas wie Erleuchtung bedeutet, dann bin ich auch oft ziemlich erleuchtet... haha... Du glaubst ja gar nicht wie leer mein Kopf sein kann!

Uhanek: Nun muss man natürlich einmal mehr anmerken, dass dieser junge Mann mit all seinen großartigen Vorstellungen über sich selbst und mit all seinem mit egozentrischen Fantasien durchmischten angelesenen Halbwissen eben ein typischer Vertreter unserer Welt ist. Wir alle erschaffen uns eine Welt aus all den erlernten, erfahrenen und gedeuteten Versatzstücken, die wir im Verlauf unseres Lebens aufnehmen und mit deren Hilfe wir uns unsere Wirklichkeit erklären und strukturieren, mit dem Resultat, dass sich dieses Puzzle aus Ideen und Annahmen letztlich als vermeintliche Wahrheit unentwegt selbst bestätigt. Es ist, als würden wir den Himmel und das Licht durch Buntglasscheiben betrachten, die wir uns aus farbigen Glassplittern zusammengesetzt haben. Name, Geburtstag und -ort, Familienmitglieder, Freunde und alle erdenklichen weiteren biographischen Details bilden die transparenten Mosaikteilchen. Und als sei das nicht schon genug, schieben wir auch noch mehrere derartige Scheiben übereinander - die von uns als Wahrheiten akzeptierten Inhalte, unsere Glaubenssätze etc. - und nehmen dabei an, in den so entstandenen Farbmustern eine eigenständig bestehende Welt des Lichts zu erblicken. Und die Welt, die wir uns auf diese Weise erschaffen, ist nicht einmal besonders schön, denn sie wird dominiert von den düsteren Farben unserer dunkelsten Emotionen oder Geistesgifte: Gier, Hass, Ignoranz, Stolz und Neid. Und all dies wird zusammengehalten von unserem Festhalten an einem Selbst --- unserer Selbst-Sucht. Mit aller Macht identifizieren wir uns mit den Schichten unserer Buntglasmosaike, halten vehement an diesem falschen Selbst fest, egal wie hässlich die hindurch scheinende Sonne auch verzerrt wird. Wenn uns die Lichtmuster zu unangenehm werden, dann schieben wir lieber eine neue Scheibe vor die anderen Mosaike, anstatt zu lernen, diese Konstruktionen alle miteinander beiseite zu legen. Es ist noch nicht einmal so, dass die Buntglasmosaike als solche das Problem darstellen. Unsere Selbstidentifikation und die daraus entstehenden Leiden sind das Problem.

Sati: Dann hat Tantra ja sehr viel mehr damit zu tun unsere Wahrnehmung zu verändern oder "zu leeren"?

Uhanek: Nicht nur die Wahrnehmung, sondern das Bewusstsein insgesamt. Legen wir unsere falschen und begrenzenden Ideen über uns selbst und unsere Welt ab, so kann sich unser eigentliches Potential entfalten. Als Tantriker wollen wir uns von einem wahnhaften Zustand der Trennung, Vereinzelung und konzeptuellen Einengung befreien. In unseren westlichen Gesellschaften hat sich das ganze Problem durch das trennende und vereinzelnde Ich-Ideal und die allgemein vorherrschenden auf Besitz und Konsum ausgerichteten Ideologien noch weiter verschärft. Argwöhnisch betrachten wir unsere Mitmenschen, fixieren uns auf das Trennende, betrachten die anderen als potenzielle Feinde, als Konkurrenten, als mögliche Diebe, Terroristen, Spione. Und wenn wir von den anderen ja ohnehin nur das Schlechteste erwarten können, dann können wir es ihnen auch gleich tun. Jeder ist sich schließlich selbst der Nächste. An die Stelle der Nächstenliebe treten der Nächstenhass und der Nächstenverdacht in unserer feindseligen Kultur der alles verzehrenden Selbst-Sucht. Hasse deinen Nächsten wie dich selbst.

Es ist eine zutiefst materialistische Kultur. Ausgehend von der Annahme einer eigenständig existierenden Materie, die Leben und Bewusstsein entweder zufällig hervorbringt oder quasi ausschwitzt, oder aber die unabhängig und letztlich getrennt neben dem Geist besteht, steht der einzelne Mensch als materielle Einheit getrennt vor einem ganzen Universum anderer materieller Einheiten, die auf unterschiedliche Weise gelenkt und manipuliert werden können. Der materialistische Mensch in seinem getrennten Eigen-Sein sammelt im Verlauf seiner zeitlich begrenzten Existenz materielle Besitztümer. Unter diesen Besitztümern befinden sich auch Worte und Konzepte aller Art, die unter der Sichtweise des getrennten materiellen Eigen-Seins selbst zu einem Ausdruck der Materie und ihrer Beschränkung wird. So, wie sich der Materiemensch als eigenständiges Selbst begreift, so sieht er in seinem geistigen Materialismus auch Worte als abgespaltene Einheiten des Klangs. So wie sich der konsumierende Materiemensch mit Kleidung schmückt, die seinem momentanen Modeempfinden entspricht, so kann er sich auch mit Worten und Konzepten behängen, kann sich eine Persona zurechtschneidern, kann sich Verhaltensweisen zulegen, die der so präferierten Rolle entsprechen und kann von seinem Umfeld und seiner Bezugsgruppe Bestätigung in diesem Rollenspiel einfordern, dem keine tiefere Bedeutung als lediglich die persönliche Lust eines einzelnen, zufällig mit Bewusstsein und Emotionen ausgestatteten Materieklumpens beikommt. Persona und individuelle Philosophie (oder was man dafür halten möchte) als kreative Selbstdarstellung eines zufällig bewussten und (mehr oder weniger) denkenden Erdkrümels, der unablässig Identitäten, Geschichten und Objekte erfindet, die er für wahrhaft existierend hält.

Demgegenüber richten Tantra und andere alte spirituelle Systeme den Fokus auf den Himmelsraum. In der Ausdehnung des Raumes formieren sich die Elemente zu immer neuen Formen und Wirklichkeiten. Der Raum selbst ist vollständig erwachtes Gewahrsein und strahlendes, ungehindertes Bewusstsein – der absolute Buddha. Und auch in den schamanischen Traditionen ist der Raum selbst ein höheres Wesen. Den Menschen, die nur einen Daseinsbereich empfindender Wesen in einem unermesslichen weiten Geflecht verschiedener, miteinander interagierender Daseinsbereiche in dieser dynamischen Welt bevölkern, Praxisebenen geschickter Mittel unterschiedliche Möglichkeiten der Hilfe und Entwicklung.

Schamanische Praktiken zielen darauf ab, Ordnung in dem zu schaffen, was den Raum füllt, und das zu beherrschen, was im Raum aufsteigt und sich auf uns Menschen auswirkt. Der Schamane lernt, mit unsichtbaren Kräften in Verbindung zu treten, sie zu lenken und sich gegebenenfalls dagegen zu verteidigen. Der Pfad der Sutras hingegen beruht auf Entsagung. Man ist der Dinge überdrüssig, die sich im Raum angesammelt haben und der oder die Praktizierende konzentriert sich darauf, das Negative auszusortieren und die Anhaftung an das Ich oder Selbst zu überwinden, aus der soviel Leid resultiert. Die Geistesgifte Gier, Hass und Unwissenheit sollen langsam bereinigt und positive Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl, Vertrauen, Gleichmut, innerer Frieden und Weisheit hervorgebracht und kultiviert werden.

Sati: Hat denn Tantra dann auch nur im Entferntesten was mit Sex zu tun? Ich meine, woher kommt denn diese sehr verbreitete Vorstellung und wie lässt sich das mit dem Prinzip der Entsagung vereinbaren?

Uhanek: Die Tantriker sortieren nichts aus, sondern nehmen das, was da ist, und verwandeln es in Schönheit, in heilige Ornamente, die den Raum verzieren. Die gewöhnliche Welt wird in den reinen Mandalapalast einer Buddha-Gottheit transformiert. Alle Erscheinungen bilden den Körper der Gottheit, alle Klänge sind der Klang heiliger Mantras und alle Sinneswahrnehmungen sind reine Glückseligkeit. Die kleine, beengte, von Ängsten, Unglück und Ärger gequälte wahnhafte Identität wird transformiert in die Erfahrung von Grenzenlosigkeit, Größe, Stabilität, Freude und Gelassenheit. Tantra arbeitet mit der Energie des Individuums mit Hilfe von komplexen Visualisationen einer ungeheuer reichen Symbolsprache und Bilderwelt, mit Meditationen in Bewegung (Ritualen), verschiedenen Yogas etc. Grundsätzlich können alle Bereiche des alltäglichen Lebens in den Pfad integriert werden --- allerdings ohne Anhaftung. So gibt es auch Meditationen, in denen der sexuelle Höhepunkt auf dem Pfad genutzt wird. Wie wir alle sehr gut wissen, ist natürlich der sexuelle Höhepunkt eine sehr angenehme Erfahrung, deshalb haften wir daran an, d.h. wir wollen mehr. In dem Fall haben wir dann ganz gewöhnlichen Sex, völlig egal, in was für blumige Worte wir das Ganze hinterher verklären. Die Integration von Sexualität im tantrischen Sinn kann nur erfolgen, wenn ihr eine tiefe und stabile Erfahrung der Leerheit vorangeht. Derlei Praktiken sind einfach sehr weit entfernt von dem im Westen zu diesem Thema verbreiteten Unsinn und sie bilden nur eine von vielen verschiedenen Methoden, d.h. innerhalb der tantrischen Traditionen kommt ihnen insgesamt nicht die Bedeutung zu, die man ihnen auf dem westlichen Esoterikmarkt beimisst. Ganz zu schweigen davon, dass es sich um diffizile Methoden für Praktizierende mit tiefer Meditationserfahrung und Selbstkontrolle handelt.

Sati: Also kann man ja als Tantriker im Grunde ein ganz normales (westliches) Leben führen. Danke, jetzt bin ich wirklich viel schlauer als vorher! Und wenn nochmal einer versucht mich mit Pseudo-Tantra-Geschwafel in den nächsten Swingerclub zu zerren, kann ich dem ja mal erklären, was Tantra wirklich ist...

Dienstag, 13. März 2012

Die Heiligkeit der Welt

Buddhisten, die den Vajrayana praktizieren, bewegen sich durch eine dynamische Welt reiner Sinnlichkeit, klare Weite, die erfüllt ist von fließenden, Muster bildenden Energien. Die Welt, das ist das Spiel der fünf Elemente. Gemeint sind die Elemente Raum, Wind, Feuer, Wasser und Erde. In dieser Reihenfolge aufgezählt wird ein Schöpfungsprozess zum Ausdruck gebracht, in entgegen gesetzter Richtung aufgezählt bedeutet es Auflösung. Das Zusammenspiel und die Verflochtenheit der Elemente wird in der tibetischen Tradition als Mandala dargestellt. Der tibetische Ausdruck dafür lautet kyilkhor, das bedeutet Kreis, das Rotierende, die Rotation der Essenz, die zentrale Energie, das essenzielle Zentrum. Die grafische Darstellung eines Mandalas ist sehr einfach, nämlich ein Zentrum und vier Richtungen. Ohne ein Zentrum gibt es auch keine Richtungen, denn Richtungen lassen sich nur von einem zentralen Bezugspunkt aus definieren, daher bildet der Raum das zentrale Element. Raum ist identisch mit dem philosophischen Konzept der Leerheit. Raum und Leerheit bilden die Grundlage der Bewegung, d.h. die Bewegung kommt aus dem Raum.

Was aber bedeutet „Energie“ in diesem Zusammenhang? Energie ist Bewegung. Alle Phänomene sind in steter Bewegung. Die Bewegung als solche wird als Wind bezeichnet, der damit das Hauptelement nach dem Raum darstellt. Der Wind kann in zwei Hauptaspekte unterteilt werden: Er weht als äußeres Element, während er im Geist als Bewegung von Gedanken und Emotionen erscheint. Geht man sehr gründlich in die Tiefe, so finden sich weit mehr Details und viele verschiedene Arten von Bewegung: Unser Herz schlägt, unsere Lunge atmet, unser Verdauungssystem, das Nervensystem, der Blutkreislauf, die Muskeln etc., all diese Systeme unseres Lebens beruhen auf Bewegung. Geht man dann noch eine Ebene tiefer, so findet man z.B. in den Verdauungsorganen Mikroorganismen und Abermillionen von Zellen, die sich unaufhörlich bewegen. Die Grundlage des Gleichgewichts bildet die wiederkehrende Bewegung. Hört die Bewegung auf, so ist das der Tod. Nimmt man eine Körperzelle und dringt in ihr Inneres vor, so finden sich weitere, noch feinere Strukturen, Mineralien, Proteine etc. Geht man noch tiefer, so findet man Moleküle und dann Atome. Gehen wir sogar noch weiter in die Tiefe, so sehen wir Energie, von der niemand genau weiß, um was es sich handelt. Diese Energien sind Bewegung, sie sind wie eine Vibration. Das ist es, woraus Atome und Moleküle hervorgehen und schließlich die ganze von uns erlebte Welt mit ihren vermeintlich festen Erscheinungen. Doch obgleich sie fest erscheinen, sind sie doch ihrer inneren Natur nach nichts Festes, sondern vibrierende, sich bewegende Energie. Diese Bewegung wird in der tibetischen Beschreibung durch Lung repräsentiert, ins Deutsche übersetzt als „Wind“. So wird also Lung zwar als Wind übersetzt, doch seine Bedeutung ist Bewegung.

Der Vajrayana lehrt, dass alles Geist ist. Gemeint ist jedoch nicht unser gewöhnliches Tagesbewusstsein, das auch als Affengeist bezeichnet wird, weil es sich unentwegt von Objekt zu Objekt oder von Konzept zu Konzept hangelt, unberechenbar, nie wirklich zu Ruhe kommend. Gemeint ist eine überindividuelle Qualität oder Ebene des Bewusstseins, die über alle Konzepte und alle Begrenzungen hinausreicht. Dieses Bewusstsein entspricht dem Raum, es ist weit, klar und leuchtend, unerschütterlich, allwissend, ungeboren; es ist die grundlegende Buddhanatur. Frei von allen Begrenzungen und Konzepten ist sie die Leerheit. Sie ist leer von den Grenzen eines Selbst und sie ist gleichermaßen leer von Anderem, weil sie alles beinhaltet.

In der unermesslichen Weite dieses ursprünglichen Raumes ist die Bewegung – Wind. Zu den verschiedenen Arten Wind zählen auch die Winde des Karma, d.h. die gewohnheitsmäßigen Tendenzen, die zu einer bestimmten Erfahrung von Wirklichkeit führen. Sie können den ursprünglichen Raum niemals beeinflussen, aber sie können den Anschein erwecken, als überdeckten sie ihn. Buddhistische Praxis, das ist die Anwendung von Methoden, die alle Begrenzungen eines illusionären Selbst transzendieren, die karmischen Winde bereinigen und beruhigen und die ursprüngliche, raumgleiche Buddhanatur offenbar werden lassen.

Die Winde des Karma peitschen die Oberfläche des ozeangleichen Geistes und formen immer neue Muster aus den fließenden Elementen. Es ist ein Meer, das von gewaltigen Wellenbergen durchwogt wird. Die kleinsten Kräuselungen darauf sind die Individuen, verbunden mit etwas größeren Wellenbewegungen – das Karma von Familien -, die Teil noch größerer Wellen sind – das Karma von ethnischen Gruppen und ganzer Völker -, die sich wiederum zu riesigen Brechern formieren – das Karma eines ganzen Planeten. Wellenberg neben Wellenberg sind auch die unzähligen Weltsysteme miteinander verbunden, alle miteinander in der einen Buddhanatur.

Der von Illusionen verwirrte Geist durchläuft immer neue traumartige Zustände, vorangetrieben von den karmischen Winden. Eine Existenz endet, wenn ihr Karma zu einem Ende gelangt. Aber die karmischen Winde wehen weiter. Neue wurden entfacht, unvorstellbar alte gelangen zu voller Kraft und der Kern des Bewusstseins, das mit dem Tod seinen Namen und andere Faktoren seiner vergangenen Existenz hinter sich gelassen hat, wird vorangeweht, hinein in eine neue Existenz, die dem vorherrschenden Wind und den damit verbundenen Gewohnheiten und Emotionen entspricht. Es ist ein großes Glück, in die meist ausgewogenen Umstände einer überaus kostbaren menschlichen Existenz geboren zu werden, mit all ihren Möglichkeiten, aus dem karmischen Traumzustand erwachen zu können. Der Eintritt in die Existenz erfolgt im Augenblick der Zeugung, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Die weiße, lunare Substanz des Vaters, die rote, solare Substanz der Mutter und der Bewusstseinskeim, der sich mit den Substanzen und dem Karma von Vater und Mutter verbindet. Aus dieser Verbindung bildet sich der karmische Körper – ein System aus subtilen Energien und Energiebahnen und Winden, durchweht und aufrechterhalten vom karmischen Wind. Im Herzen sitzt der Bewusstseinskeim, im Scheitel die lunare Essenz des Vaters und im Sexualzentrum die solare Essenz der Mutter. Zwischen der weißen und der roten Essenz weht der karmische Wind und hält sie an ihrem Ort. Gelangt die Existenz an ihr Ende, so kollabiert das System unumkehrbar, die beiden Essenzen fallen ins Herz, der Zwischenzustand des Todes setzt ein und eine Neuwerdung beginnt – sofern das Bewusstsein sich seiner wahren, raumgleichen Natur nicht vorher bewusst wird.

Die inneren und äußeren Umstände und Ereignisverläufe sind eine Widerspiegelung des Fließens der inneren subtilen Energien und des Wehens der karmischen Winde. Die Erfahrung der Sonne und ihres Verlaufs ist eine Spiegelung des Verlaufs der solaren Energie während des Tages. Die Erfahrung des Mondes und der Sterne spiegeln den Verlauf der lunaren Energie während der Nacht. Die Erfahrung des Raumes spiegelt die Grenzenlosigkeit des ursprünglichen Bewusstseins. Wohlgemerkt: Das Äußere ist Spiegelung des Inneren, nicht umgekehrt. Karma wiederum zeigt sich in den Ereignissen und Ereignisverläufen, sowie in der Art unseres Erlebens.

Der buddhistische Weg ist ein Pfad tiefgründiger Transformation. Der Körper und die Erscheinungen werden als unermesslich kostbare Manifestationen der befreienden Energien erkannt. Anders als in vielen von dualistischer Zersplitterung geprägten Sichtweisen gilt unser menschlicher Körper nicht als abzulehnende oder zu unterdrückende Unreinheit, sondern als eine schwer zu erlangende Kostbarkeit. Der Körper bildet die Grundlage unseres Erwachens in die Buddhanatur, daher muss er rein gehalten und gepflegt werden. Der Körper ist das alchemistische Gefäß, in dem die unreinen und unedlen Substanzen der karmischen Energien in das Gold der Verwirklichung umgewandelt werden. Den Körper rein zu halten und zu pflegen bedeutet, dass er angemessen gereinigt wird, dass ihm keine Giftstoffe zugeführt werden, dass er gut genährt wird, ausreichend Schlaf und Bewegung erhält, dass Exzesse aller Art vermieden werden etc. Ernähren wir uns von hochwertigen Nahrungsmitteln im natürlichen Wechsel eines gesunden Hungergefühls und daran anschließender genuss- und maßvoller Nahrungsaufnahme, so nehmen wir die Essenzen der Elemente auf und gelangen zu einem tiefen, sehr befriedigenden Gefühl der Sättigung und es fällt sehr leicht, auf alle erdenklichen Genussgifte einfach zu verzichten.

Das europäische Denken ist bis heute tiefgreifend von einem Dualismus geprägt, der das menschliche Dasein in Körper und Geist aufspaltet, wobei der Geist höher bewertet wird und dem Körper, lediglich materieller Besitz und Gebrauchsgegenstand eines vermeintlich eigenständig existierenden geistigen Selbst, mit seinen Funktionen Geringschätzung entgegen gebracht wird. Dies bildet die Grundlage für die Extreme Askese und Exzess. Die Verachtung des Körpers und der körperlichen Welt lässt uns ungeachtet der Folgen zu immer neuen Genussgiften greifen, bis wir fett und aufgedunsen vor uns hinvegetieren, mit stets überfülltem Bauch, doch unentwegtem Hunger. Oder wir verachten die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme, ernähren uns – kalorienzählend – jahrzehntelang nur mehr von Kaffee, Zigaretten, Keksen, Knäckebrot u.ä., ohne uns zu nähren. Der ausgezehrte, unterernährte Körper manifestiert Krankheiten aller Art, die wir mit Chemie zu bezwingen versuchen. Oder wir betrachten den Körper als eine Art Maschine, die wir durch verbissene Diäten und durch selbstquälerische sportliche Aktivitäten unserem Willen zu unterwerfen und zu „optimieren“ versuchen. Diese drei Beispiele offenbaren die immer gleiche tiefe Spaltung und Entfremdung gegenüber dem Körper und der natürlichen Welt.

In ähnlicher Weise wie der Körper werden auch die Stimme und der Geist rein gehalten und gepflegt. Die Stimme repräsentiert die Energie. Sie rein zu halten und zu pflegen bedeutet, nicht zu lügen, nicht in grober Weise zu reden, nicht die Stimme als Waffe zu missbrauchen, mit der man Wortprojektile auf andere abschießt, oder ihre Kraft durch Geschwätz zu zerstreuen. Der Geist wiederum wird in Qualitäten wie Mitgefühl, Achtsamkeit, Ruhe, Konzentration und Logik geschult. Auf diese Weise wird das psychophysische System immer weiter sensibilisiert und geschmeidig gemacht, um schließlich fähig zu werden, auch die subtilen Energien transformieren zu können.

All dies geschieht natürlich nicht aus Eigennutz, sondern zum Nutzen aller. Die Welt, die wir erleben, ist eine Widerspiegelung dessen, was in uns ist. Buddhismus beschränkt sich daher nicht auf die Läuterung innerer Energien, vielmehr muss mit den inneren Entwicklungen ein äußeres Handeln einhergehen. Im Buddhismus wird auf ganz verschiedenen Ebenen Entsagung geübt. Generell wird dem Unheilsamen entsagt und das Heilsame angestrebt. Das Unheilsame sind die verwirrten karmischen Sichtweisen - der Glaube an ein eigenständig existierendes Selbst und die damit verbundenen negativen Emotionen und neurotischen Zustände, die zusammengefasst werden in den drei Geistesgiften Gier, Hass und Unwissenheit oder Verblendung - und die daraus resultierenden verdrehten Arten des Handelns. Der Oberbegriff für die wahnhaften, unheilsamen Zustände ist Samsara. Die heilige Welt, in der wir uns befinden, ist in vielfacher Hinsicht kontaminiert mit den Giften Samsaras. Dies verschafft uns unendlich viele Möglichkeiten, unsere inneren heilsamen Entwicklungen in äußeres heilsames Handeln umzusetzen…

Samsara, das ist Verwirrung, Wahnsinn und Lüge. Wahrheit wird verzerrt und Verzerrungen werden zur Wahrheit erklärt. Hass und Gier werden gesät, tiefe Ignoranz wird kultiviert. Das betrifft natürlich auch den Buddhismus. Was man aber auch so alles zu lesen bekommt! Vor einiger Zeit las ich irgendwo, dass Buddhismus so furchtbar weltverneinend sei. Das zentrale Thema sei das Nichts und der Körper würde verachtet. Von Lustfeindlichkeit war gar die Rede. Gleichzeitig findet man Buddhismus mit Vegetarismus, Gewaltlosigkeit, Frieden und Meditation assoziiert. Der Umstand, dass es im Buddhismus monastische Traditionen gibt, kommt der europäischen Neigung zur Verachtung des Körpers sehr entgegen. Und natürlich gibt es weit verbreitete, durch allerlei romantisierende Kitschfotografie, Hollywooddramen und Japanromantik geprägte Vorstellungen von der Poesie des Buddhismus. Ein „richtiger“ Buddhist ist demzufolge offenbar eine Person, die als nihilistisch-asketischer Mönch oder Nonne mit brezelförmig verschlungenen Beinen herum sitzt, dann und wann ein wenig Grünzeug mümmelt, verzückt lächelnd einen Schmetterling oder eine Blume betrachtet und sich bisweilen dazu einen irgendwie poetischen Vierzeiler notiert.

Vielen Menschen scheinen derartige Vorstellungen in der einen oder anderen Weise durch den Sinn zu geistern. Ihr Glaube daran ist oft so fest, dass sie empört reagieren, wenn sie etwa erfahren, dass die Realität des Buddhismus nicht ihren Fantasien darüber entspricht, oder wenn sie vielleicht enttäuscht sind, dass ihr Lehrer nicht immer sanft und freundlich mit ihnen umgeht, oder wenn ihnen bewusst wird, dass ein Lama nicht zwingend auch ein zölibatärer Mönch sein muss. Zuweilen entwickeln sie dann sogar wilde Verschwörungstheorien, die sie als vermeintliche Enthüllungen in reißerischen Büchern veröffentlichen. Aus derlei verzerrten und verengten Vorstellungen leuchtet oft eine jahrhundertealte europäische Arroganz. Man kann ein ganzes Leben lang den Buddhismus studieren und auch nach Jahrzehnten des Studiums immer neue Aspekte und Tiefen erkunden, doch europäisches Denken liest einen Lexikoneintrag oder eine religionswissenschaftliche Zusammenfassung (und wie viel dort tatsächlich verstanden wurde, sei einmal dahingestellt), glaubt fortan alles über „den Buddhismus“ zu wissen und betrachtet dann ganz einfach die Oberfläche dieses Objektes durch die Brille präferierter Ideologien, halbverstandener christlicher Konzepte und selbst zusammengeschusterter Theorien.

Solch reduzierte Buddhismus-Klischees sind immer wieder erstaunlich: Glaubt tatsächlich irgendjemand, für so etwas seien Tempel und Stupas errichtet worden? Prinz Siddharta opferte sein luxuriöses Palastleben, umgeben von allen Annehmlichkeiten, der Suche nach Erleuchtung. Sollte man nicht annehmen, dass er mehr gesucht haben könnte, als einfach nur Passivität und Grünzeug? War er lediglich ein Luxusgeschöpf, das ein wenig Wellness gesucht hat? Oder entspannt lächelnde Körperfeindlichkeit?


Der Buddha suchte und fand die Befreiung vom Leiden. Der leidhafte Zustand der Illusion ist Samsara, also Verwirrung, Wahnsinn und Lüge mit all ihren leidhaften Verstrickungen. Heutzutage bewegen wir uns durch eine Zeit, die als Kaliyuga, das dunkle Zeitalter, bezeichnet wird. Es ist eine Zeit, in der die dämonischen Kräfte Samsaras sich zu so großer Macht ausgeweitet haben, dass es immer schwerer wird, die Wege zur Befreiung zu finden, denn selbst wenn wir einen solchen Pfad gefunden haben, werden wir von immer neuen Verwirrungen und Zweifeln geplagt. Es ist eine Zeit, in der wir auf all unseren Daseinsebenen auf immer neue Weise vergiftet und betäubt werden. Dies wiederum zieht viele sekundäre Leiden und Probleme nach sich. So sind die Vergiftungen und Verunreinigungen unserer drei Tore – des Körpers, der Stimme und des Geistes – unser primäres Problem, aber sie bewirken eine Fülle äußerer leidhafter Erfahrungen.

Gemäß der tantrisch-buddhistischen Sichtweise bewegen wir uns durch eine Welt, die von unermesslich vielen Arten empfindender Wesen bevölkert ist. Hierbei machen diejenigen Daseinswelten, die wir mit unseren Sinnen erfassen können – also die menschlichen und tierischen Existenzformen -, nur einen Bruchteil dessen aus, was tatsächlich um uns herum vorhanden ist. Der Buddhismus beschreibt darüber hinaus viele weitere, subtilere intelligente Daseinsformen, die Samsara ebenfalls bevölkern und uns umgeben. Wir interagieren mit ihnen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Da sie genau wie wir verblendete, von Leiden heimgesuchte Wesen sind, können wir ihnen durch unser blindes, unbewusstes, zutiefst ignorantes und selbstsüchtiges Dasein Schaden zufügen, was diese damit quittieren, dass sie uns vielfältige körperlichen und psychische Krankheiten schicken.

Unter den verschiedenen machtvollen Wesen bilden die Mamos (tib.) oder Matrikas (skt.) eine der wichtigsten und gefährlichsten Klassen. Ihr Name bedeutet „Mütter“ und unter den machtvollen Wesen sind sie die ältesten, denn sie repräsentieren den Aspekt des Universums, den wir als „Materie“ wahrnehmen. Wird ihr Daseinsbereich verletzt, so schicken sie Krieg und verheerende Seuchen. Insbesondere in diesem dunklen Zeitalter, in dem selbst der Vajrayana, das „Große geheime Mantra“, nicht unangetastet bleibt und von manchen in banale Zauberei, reine Psychologie oder ähnliches verzerrt wird, wird ihr legendärer Zorn entfesselt:

„Wenn die Söhne nicht mehr auf die Worte ihrer Väter hören,
eine böse Zeit, wenn Verwandte streiten,
wenn sich die Leute in schlampige Lumpen kleiden,
wenn sie sich mit schlechtem, billigem Essen ernähren,
wenn es Familienfeden und Zivilkriege gibt:
All dies provoziert den Zorn der schwarzen Mamos.
Diese vielfältigen Frauen füllen tausend Daseinsbereiche.
Sie schicken Krankheit zu Mensch und Tier.
Der Himmel ist dick erfüllt von dunklen Wolken der Krankheit.
Sie entfesseln kosmischen Krieg.
Sie vernichten, indem sie ein Zeitalter der Waffen einleiten.
Plötzlich schlagen sie die Menschen mit tödlichen, eitrig-geschwürigen Wunden.
Kühn werfen sie Hagel und Blitzschläge herab.“

Bildliche Darstellungen zeigen die Mamos meist ausgestattet mit einem Ledersack, der verschnürt ist mit einer Giftschlange. Er ist gefüllt mit Giften und Seuchen, die von den Müttern verspritzt werden, wenn ihr Zorn erregt wurde. Neue, bisher noch nicht gekannte Seuchen gelten als das Werk der Mamos. Hier liegt nach buddhistischem Verständnis z.B. auch der Ursprung von AIDS. Und um hier gleich einem ganz typischen Missverständnis entgegen zu wirken: Es geht nicht um eine individuelle Schuld, die von den Mamos bestraft wird, es geht um kollektives menschliches Fehlverhalten. Das Individuum kann sich nur darum bemühen, achtsam zu handeln und den Zorn der Mütter zu beschwichtigen.

Die Mamos insgesamt sind zwar machtvolle, jedoch samsarische Wesen wie wir. Es gibt jedoch auch unter ihnen erleuchtete Wesen. So nennen die höchsten Tantras der Nyingma-Schule oder der alten Tradition des tibetischen Buddhismus eine Mamo, die in den Rang einer überweltlichen Weisheitsdakini erhöht ist, d.h. sie ist ein im Daseinsbereich der Mamos manifestiertes erleuchtetes Wesen. Sie repräsentiert die „befreiende Zauberei“ oder den „befreienden Fluch“ (tib. mamo bötong), durch die sie die Verbindung des Praktizierenden mit der heiligen Welt beschützt. Wenn sich also z.B. ein Praktizierender des Vajrayana eine respektlose Haltung gegenüber der Heiligkeit angewöhnt, so hat dies giftige Ergebnisse zur Folge. Die Praxis dieser Meditationsgottheit ist daher ein äußerst kraftvolles Erinnerungsmittel für den Praktizierenden, um seine spirituellen Versprechen (samaya) zu stärken und seinen Sinn für die Kostbarkeit des Lebens zu schärfen.

Die Mamos bilden eine Kategorie von insgesamt acht Klassen machtvoller Wesen, die den Menschen umgeben. Die Klasse der Nagas etwa umfasst insgesamt drei Arten von Wesen, die die Gewässer und den Erdboden bevölkern. Werden sie provoziert, so bewirken sie verschiedene Hautkrankheiten, Lepra u.ä. Die anderen Klassen bewirken Lähmungen, Epilepsien, Krebs, Wahnsinn, Streit, Krieg oder auch Unfälle. Eine jede der acht Klassen repräsentiert einen Aspekt der uns umgebenden Welt und jeder dieser Aspekte ist gleichermaßen eine Spiegelung unserer inneren Beschaffenheit. Wir sind also nicht Opfer einer feindlichen, dämonischen Umwelt, sondern die von uns erlebte Umwelt spiegelt die Dämonie der in uns bestehenden Geistesgifte.

Es mag vielleicht langsam deutlich werden, dass Buddhismus weder ein Synonym für Weltabgewandtheit oder Körperfeindlichkeit, noch eine seichte Wellness-Übung ist, die der Entspannung und dem persönlichen Wohlbefinden dient. So empfiehlt etwa Dzongsar Khyentse Rinpoche solchen Menschen, die nur meditieren wollen, um sich „gut zu fühlen“, um „glücklich“ oder „entspannt“ zu sein, sie sollten doch lieber zusehen, dass sie eine Ganzkörpermassage bekommen, statt zu versuchen, den Dharma zu praktizieren.

Den Buddha-Dharma zu praktizieren bedeutet, sich einer anspruchsvollen Übung zu unterziehen, die den Geist klärt, die Achtsamkeit schärft, das Mitgefühl entwickelt, die uns dabei hilft, die dualistischen Aufspaltungen in Selbst und Andere, Ich und Welt, Zuneigung und Abneigung usw. zu überwinden und dadurch fähig zu werden, die heilige, ursprünglich reine Welt in das eigene Dasein zu integrieren. Daraus resultiert ein entsprechendes Handeln. Wird der Körper als etwas Heiliges erkannt, das die Grundlage auf dem Weg zur Erleuchtung darstellt, so wird er gepflegt und sowohl äußerlich, als auch innerlich rein gehalten. Wir werden achtsam hinsichtlich unserer Nahrung, werden fähig, Genussgifte zu erkennen und zu vermeiden, können die natürlichen Rhythmen von Ruhe und Aktivität angemessen beachten und Exzesse aller Art vermeiden. Dies hilft uns dabei, unsere Energie auszugleichen und zu harmonisieren, wodurch wiederum die Übungen des Geistes intensiviert werden und schnellere Resultate bringen. So können wir innere Zufriedenheit, Entspannung und Gelassenheit entwickeln, was zu äußerer Genügsamkeit führt. So in den mittleren Weg zwischen allen Extremen eingetreten, können wir dann auf vielen Ebenen zum Nutzen aller empfindenden Wesen handeln. Wir sind dann Teil dieser heiligen Welt und unser Handeln ist natürlich und ungekünstelt auf ihr Wohl gerichtet.

Montag, 14. November 2011

Herrin der drei Welten

„Ich glaube das, was ich sehen und anfassen kann. Das ist Realität!“ Erklärte mir einst ein Klassenkamerad in einer hitzigen Rede wider die religiösen Anschauungen und alle Fragen der Spiritualität und Metaphysik – oder dessen, was er sich darunter vorstellte. Was genau diese sinnlich greifbare Realität sei, das hatte er von seinen Eltern und Lehrern erfahren. Und wie ein entsprechend „realistischer“ Lebensweg auszusehen habe, das hatten sie ihn auch gleich gelehrt: Berufsausbildung, Bausparvertrag, Eigenheim, Ehe, Nachwuchs und schließlich Rente. Punkt. So ausgestattet mit der Rüstung des Glaubens an eine materialistische, vorherseh- und planbare Realität machte er sich auf seinen Weg in die fließende und strömende Welt, die ihn eines Besseren belehrte: Die Begegnung mit Vergänglichkeit, Verlust, Wandel, Verletzlichkeit und Tod brachte ihn zu genau den Fragen, die er früher so vehement abgelehnt hatte. Das Konzept von der materialistischen „Realität“ und dem „realistischen Lebensweg“ schließt meist die Einsicht aus, dass alles in uns und um uns herum sich in ununterbrochener Bewegung und in stetem Wandel befindet. Wie „realistisch“ ist diese Perspektive also tatsächlich?

Ich war während unserer Schulzeit solchen Reden, in die auch andere Freunde immer wieder einmal einstimmten, einigermaßen regelmäßig ausgesetzt. Diese Predigten wurden meist mit missionarischem Eifer vorgetragen und waren durchaus gut gemeint, denn als Ungläubiger musste ich offenbar vor der drohenden Verdammnis wenn schon nicht bewahrt, so doch zumindest freundschaftlich gewarnt werden. Das, was sie mir als allein gangbare Wirklichkeit aufzudrängen versuchten, war die Perspektive eines Eingekerkerten, der eine Welt außerhalb seiner Gefängnismauern für Aberglauben hält: Wirklichkeit, das sind die augenscheinlichen Formen der über die Sinne erfahrbaren materiellen Welt, in der wir innerhalb einer Lebensspanne ein einziges Menschenleben führen; unser Bewusstsein wird dabei durch die chemischen Vorgänge im Körper sozusagen aus der Materie ausgeschwitzt; unser Handeln hat keine tiefergehenden Folgen und die materielle Welt hat der Befriedigung unserer Bedürfnisse und unserem Lustgewinn zu dienen; was diese Bedürfnisse und der Lustgewinn sind, das erfahren wir aus der Werbung, den neuesten Modetrends und durch aktuelle Pop- und Filmikonen; da wir ohnehin nur für eine begrenzte Zeit zufällig aus einem Materiehaufen abgesondertes Bewusstsein in einer grundsätzlich sinnlosen Welt sind, ist es legitim, das eigene Leben auf größtmöglichen Lustgewinn und Konsum auszurichten, mögliche Folgen für nachfolgende Generationen können einem egal sein, denn man selbst ist ja dann nicht mehr da.

Ich selbst empfand angesichts solch nihilistischer Kerkerwelten stets ein gewisses Grauen. All das entsprach nicht dem, was ich als die Welt wahrnahm. Genau genommen stand es im Widerspruch zu der Welt, die ich erlebte. Die Welt war mir stets etwas, das sich innerhalb des Geistes abspielt, denn selbst wenn wir von einer sinnlich erfahrenen und sinnlich greifbaren Welt reden, so müssen wir doch fragen, wo sich diese Sinne und dieses Ergreifen wohl abspielen, wenn ein bewusster, deutender Geist abwesend ist? Wo sollte ein „Sehen und Anfassen“ stattfinden können ohne ein wahrnehmendes Bewusstsein? Im Geist aber spielt sich noch sehr viel mehr ab, als es das Dogma der materialistischen Realität wahrhaben will. Er umfasst Gedanken, Emotionen, Bilder, Träume und Symbole aller Art, die sich auf unterschiedlichste Weise ausdrücken. Somit ist aber den Dogmen der materialistischen Weltanschauung kein grundsätzlich größerer Wahrheitsgehalt einzuräumen, als anderen Ausdrucksformen des Bewusstseins.

Es war nicht so, dass ich etwa mit meinen eigenen ketzerischen Ansichten hausieren gegangen wäre, die vor allem darin bestanden, dass ich die Kerkerwelt der versklavenden Ideen für wahnhaft hielt. Aber meine Unfähigkeit, den Glauben an „die Realität“ zu teilen, und meine darauf gründende Neigung, derartige Vorstellungen in Frage zu stellen, war bekannt. Dieses Konzept der materialistisch-ökonomischen „Realität“ erschien mir wie ein Ornament auf einer aus kulturell tradierten Meinungen gewobenen chloroformgetränkten Decke, die irgendein böswilliger Teufel uns überzustülpen versucht, um den freien und erkennenden Geist zu betäuben. Das Chloroform, durch das wir in eine so tiefe, von immer neuen wahnhaften Fantasien durchzogene Bewusstlosigkeit fallen, besteht aus den als real empfundenen Zuständen Zerstreutheit, Gier, Abneigung, Eitelkeit und einer tiefen Ignoranz. Der Buddhismus bezeichnet diesen Schleier aus sich gegenseitig bedingenden betäubenden Zuständen und Wahnvorstellungen, der uns vom Erkennen des So-Seins der Welt und unserer eigenen Natur trennt, als Samsara.

Doch das Gewebe dieser teuflischen Decke kann Risse bekommen. Geschieht das, so erhaschen wir einen Blick auf andere Seiten der Wirklichkeit. Mir passierte dies seit meiner Kindheit als immer wiederkehrende Erfahrung, die verhinderte, dass sich die Chloroformdecke zu vermeintlicher Gewissheit verdichten konnte. Die Welt war mir die Erfahrung einer ozeanischen Tiefe aus unermesslicher Weite, strömenden Kräften und sich manifestierenden und wieder transformierenden Formen. Durchdrungen war diese wogende und wirbelnde Unermesslichkeit von einem klaren Bewusstsein. In vorläufiger Ermangelung eines besseren Begriffes nannte ich das zunächst „Gott“.

Familien unterstützen oder behindern Kinder in ihrer Entwicklung. Ich selbst hatte in der Hinsicht viel Glück mit meiner Familie und einigen sehr engen Freunden, denn ich hatte Möglichkeiten, über meine Erlebnisse zu berichten und erhielt im Lauf der Zeit Konzepte und Bilder, um die Erfahrungen sprachlich fassen und ausdrücken zu können. Teil meiner Erziehung war zudem auch das Lesen antiker Sagen und Mythen. Dadurch trat mir aus meiner Erfahrung der unermesslichen Absolutheit eine Gestalt entgegen, deren Führung ich mich anvertraute: Hekate.

Hekate ist die saffrangewandete, strahlend schöne Göttin, die über die drei Welten herrscht: Den Himmel, den Ozean und die Erde. In dieser Dreiheit fand ich meine eigene Erfahrung wieder: Den grenzenlosen Raum, das Wogen der Energie und die Manifestation der sich transformierenden Erscheinungen – drei zu einer großen Sphäre verbundene Welten, durchdrungen und beherrscht von diamantgleicher klarer Bewusstheit. Hekate ist eine überweltliche Gottheit, die sich in der Welt zeigt, jedoch nicht von der Welt ist. Daher schildern die alten Mythen den Respekt, den die anderen Götter und selbst Göttervater Zeus ihr entgegenbringen, denn sie sind weltliche Götter, Wesen die Hekates Herrschaftsbereiche bevölkern. Sie wird als Jungfrau bezeichnet, denn sie wurde mit keinem Gott vermählt, vielmehr wählt sie sich ihre Gefährten selbst und ist keiner anderen Gottheit untertan. Sie ist die nächtliche Sonne, die zur Nachtzeit die Unterwelt durchwandert, d.h. sie verkörpert nicht den Intellekt des Tagesbewusstseins, sondern Erkenntnis und Weisheit, die alle Konzepte des Intellektes überschreiten und auch über das Reich der Totengeister, Ahnen und Träume herrschen. Ihre Insignien zeigen weitere Einflussbereiche an. Die zwei Fackeln repräsentieren die zwei Arten der Weisheit: Die Weisheit der geschulten Intelligenz und die Weisheit der höchsten Erkenntnis. Die Hunde oder Wölfe zeigen sie als machtvolle Schützerin, die Schlangen zeigen ihre Herrschaft über die unterirdischen Reiche und die Gewässer, deren machtvolle Herrscher die Hüter vieler geistiger und materieller Schätze sind; der Schlüssel drückt aus, dass sie Hüterin der Mysterien ist; ihr Beiname Atropaia (das Böse Fernhaltende), sowie die Geißel, die Schlinge und der Dolch zeigen ihre Kraft, Böses und Unheil aller Art abzuwehren, zu binden und zu durchtrennen; die Mondsichel zeigt ihre Herrschaft über die illusionären Formen, der Granatapfel und der Stier die Herrschaft über den Tod. Als Triformis, die dreifaltige Göttin, ist sie Herrscherin der drei Welten und drei Zeiten, als Brimo ist sie die Furchteinflößende. Sie ist die Himmlische (Ourania) und die Weltseele, und als solcherart überweltliche Weisheitsgöttin ist sie Soteira, die Befreierin.

Sie ist auch Propolos, die Führerin, und Kourotrophos, die Pflegende – und einer solch fürsorglichen, überwältigend schönen und umfassend kompetenten Manifestation klaren Geistes und höchster Bewusstheit, die mir durch den Riss im Gewebe aus Täuschung und Lüge entgegen strahlte, vertraute ich mich gerne an. Sie führte mich durch vielerlei Untiefen hin zu den tantrischen Lehren des Vajrayana-Buddhismus, wo ich auf eine ungebrochene authentische Lehrüberlieferung stieß, in der ich meine Erfahrungen und Sichtweisen in vollkommener Weise beschrieben fand. Kleidukos, die Schlüsseltragende, hatte mich vorbereitet und mir nun die wichtigsten Mysterien eröffnet; Propylaia, die Torhüterin, gewährte mir Zugang zu Lehren, die mich genau dort abholten, wo ich war, und mir präzise Anweisungen zu meiner schnellen Weiterentwicklung gaben. Und erneut zeigte sich Hekate auch in diesem Kontext.

Unter allen Gottheiten des tantrischen Buddhismus ist Tara die beliebteste. Ihr Name könnte „Stern“ bedeuten, doch wird er nahezu immer als „Befreierin“ interpretiert, als „Sie, die hinüber führt“. So sagt sie in dem Text Die Hundertacht Namen über sich selbst:

Ich, oh Herr, werde die Wesen hinüberführen

Über die große Flut ihrer vielfältigen Ängste;

Daher besingen mich die bedeutenden Seher

In der Welt unter dem Namen Tara.

Sie erlangte diesen Namen, weil sie unermesslich viele Wesen aus Samsara befreit und in den erhabenen Seinszustand der Bodhisattvas überführt hat. So verkörpert sie den schnellen Weg zur Erleuchtung und höchsten Weisheit. Nun war allerdings selbst im mittelalterlichen Indien nur eine kleine Minderheit von Menschen wirklich und ernsthaft daran interessiert, Befreiung aus Samsara zu suchen. Ihre große Popularität erlangte sie dadurch, dass sie auch weltliche Errungenschaften anbot, allen voran der Schutz vor den acht großen Ängsten oder Gefahren: Löwen, Elefanten, Feuer, Schlangen, Räuber, Gefangenschaft, Wasser (oder auch Schiffbruch) und menschenfressende Dämonen. Diese Liste wird auch symbolisch als Ausdruck der acht spirituellen Gefahren interpretiert: Stolz, Wahn, Zorn, Neid, falsche Sichtweisen, Gier, Anhaftung und Zweifel. Doch Taras Schutz und ihre Aktivitäten reichen noch sehr viel weiter.

Weithin bekannt sind ihre Erscheinungsformen als grüne und weiße Tara, wobei die grüne Form die schnellen und präzisen Aktivitäten der erleuchteten Wesen repräsentiert, während Taras weiße, mit sieben Augen versehene Form alle Ebenen unseres Daseins überschaut und die Gabe der Langlebigkeit verkörpert. Weniger bekannt dagegen ist der Umstand, dass es noch sehr viel mehr Erscheinungsformen gibt, die sämtliche Ebenen tantrischer Belehrung, Praxis und Verwirklichung umfassen. Zusammengefasst werden sie im berühmten Lobpreis in 21 Versen, der 21 Aspekte und Aktivitäten Taras preist. Sie ist diejenige, die den Verstand schärft und die Erkenntnis des gnostischen Gewahrseins hervorruft, die die machtvollen Wirkungen verdienstvoller Handlungen verstärkt und die Lebenskräfte sammelt, die Gesundheit und Langlebigkeit schenkt, die Dämonen unterwirft, Flüche bricht und die Wirkungen übelwollender Zauberei auf ihren Ursprung zurückwirft. Sie ist diejenige, die vor dem Hindernis der Armut bewahrt und vor Vergiftung schützt, die über die verschiedenen Klassen der Götter, Geister und Dämonen herrscht und über die Elemente gebietet. Sie ist die Göttin der Natur mit all ihren Pflanzen und Tieren, die Königin der drei Welten und die Mutter aller Erwachten.

Meist wird sie als indische Prinzessin gezeigt, reich geschmückt mit Seide, Gold, Juwelen und Blumen, umgeben von duftenden Kräutern und thronend auf Sonne und Mond. Dementsprechend befremdlich wirkt es auf manche Betrachter, wenn sie die geheimeren Abbildungen der extrem wilden Erscheinungsformen Taras, geschmückt mit Menschenhäuten und Schädelketten, zu Gesicht bekommen oder wenn sie erfahren, dass Tara in der tantrischen Überlieferung der Hindus einer der furchteinflößendsten Aspekte Kalis ist. In einer ihrer geheimsten und machtvollsten Manifestationen als Schützerin erscheint sie als die Blaue Wölfin. Das Mantra dieser überwältigend starken Schützerin ist so stark, dass es jenen, die nicht durch Tara-Praxis angemessen vorbereitet sind, allein schon dadurch schaden könnte, dass sie es nur sehen. Allerdings sind all diese Formen natürlich keine Abbildung einer genau so existierenden Gestalt, sondern symbolischer Ausdruck großer Kräfte und verschiedener Wirkungen auf den wahrnehmenden Geist.

Die überwältigende Selbstoffenbarung des Absoluten bewirkt im verblendeten Bewusstsein stets ein vollendetes Grauen, daher werden etwa in der christlichen Tradition Begegnungen mit Engeln, die gemäß Dionysius die „Gedanken Gottes“ sind, mit der vielsagenden Aufforderung „Fürchte Dich nicht!“ eingeleitet. In der tantrischen Tradition wird die furchteinflößende Ungebundenheit und Kraft des Absoluten in entsprechenden Bildern zum Ausdruck gebracht. Sind wir unter dem Einfluss all unserer inneren Dämonen, unserer erbarmungslosen Selbstsucht, unserer Gier, unseres Hasses und nicht zuletzt unserer selbstgefälligen Unwissenheit zu sprödem Ego-Eis erstarrt, so wird uns die gleißende Sonne des Mitgefühls und der Erkenntnis mit Grauen erfüllen. Aber Tara ist die große Mutter aller Erwachten. Sie ist die Mutter der erhabensten Qualitäten und des höchsten Potenzials, das uns allen innewohnt. Wenn sie aber die Mutter ist, deren innerste Qualität höchstes Mitgefühl und ungeteilte Liebe ist, wie sollte sie uns Furcht einflößen, wenn wir sie tatsächlich mit den Augen eines Kindes sehen? Ein kleines Kind wird seine liebende und mitfühlende Mutter als wunderschönes Wesen wahrnehmen und seine liebende und vertrauensvolle Hingabe an die Mutter wird ihre Beziehung zueinander noch vertiefen. Egal, wie hässlich diese Mutter in den Augen der zu Ego-Eis erstarrten und unter chloroformgetränkten Konzeptdecken betäubten Wesen erscheinen mag, in den Augen ihres Kindes ist sie eine wunderschöne Prinzessin, geschmückt mit Seide, Gold, Juwelen und Blumen.

Tara ist eine Gottheit, die sich in den Erscheinungen der Welt offenbart. Auf einer allgemeinen äußeren Ebene ist sie die Herrin des ganzen Universums. Auf dieser Ebene ist sie eng verbunden mit der Erde und der Welt der Pflanzen, Tiere und Menschen. Dies wird vor allem in ihrer Erscheinung als grüne Khadiravani-Tara, die Tara des Akazienwaldes, zum Ausdruck gebracht. In dieser Erscheinungsform wird sie oft in Begleitung von zwei weiteren Tara-Manifestationen gezeigt, nämlich die goldene Marici, die Erscheinung Taras als Sonne und Tag, und die schwarzblaue Ekajata, Tara als Nacht. Auf dieser Ebene kontrolliert sie die Phänomene der Erscheinungswelt und gewährt Schutz vor allen Gefahren. Auf einer inneren Ebene wiederum kontrolliert und bereinigt sie all die geistigen und emotionalen Verdunkelungen, durch die die empfindenden Wesen in das große Rad der Wiedergeburt gezwungen werden. Nach der Einweihung durch einen Meister oder eine Meisterin können Praktizierende des Vajrayana durch Selbstidentifikation mit der Göttin ihr Dasein transformieren und schließlich den Zustand der Vollendung erreichen, indem sie Taras Qualitäten verwirklichen.

Tara ist die Herrin der drei Welten: Der Tiefe des Raumes, des Ozeans der wogenden Kräfte und des Erdenreichs der sich manifestierenden und transformierenden Formen. Sie ist die Befreierin, die die Wesen zu den Mysterien höchster Erkenntnis geleitet und sie vor Bösem bewahrt. Sie ist die Pflegende, die sich voll Mitgefühl um das Wohl der Wesen kümmert und keiner anderen Gottheit untertan ist. Sie herrscht über die Unterwelt der Totengeister, Ahnen und Träume, über das Reich der Erde und die Weite des Himmels.



Mehr zu diesem Thema in der Seminarreihe "Herrin der drei Welten": http://uhanek.twoday.net/stories/38798141/


HINWEIS:

Tara-Ermächtigung mit Lama Yeshe Zangmo http://uhanek.twoday.net/stories/38770274/

Samstag, 24. September 2011

Karma - Gedanken zu einem missverstandenen Begriff

Karma - Gedanken zu einem missverstandenen Begriff (2000/2001)

© Oliver Ohanecian

Inhalt:

Ego-Krankheiten
Eine kleine Liebesgeschichte
Spiritualität vs. Privatreligion
Die Leerheit der Erscheinungen
Emotionen und Energie
Was ist Karma?
Vom Umgang mit Karma






Ego-Krankheiten

Einer der am meisten missverstandenen Begriffe auf dem esoterischen Markt im allgemeinen und in esoterischen Kulten im besonderen ist der Begriff Karma. Üblicherweise gibt er Anlass zu allerlei oberflächlichem Geschwätz mit simplen Vorstellungen von metaphysischen Bankkonten - sicherlich kein Zufall in kapitalistisch-materialistischen Gesellschaften. Mir geht es gut - tja, is gutes Karma. Jeder hat sein eigenes Konto mit viel, wenig oder gar keinem Guthaben. Selbstverständlich ist das Guthaben "spiritueller" Personen, die z.B. in einen Hexenkult initiiert und daher Angehörige einer naturreligiösen "Elite" sind, in vielen Fällen offenbar besonders groß, denn es ist von früheren Inkarnationen ererbt. Dieses Guthaben also, mit dem man sich auf mysteriöse Weise selber beerbt, scheint sich auch nicht zu verringern und erfordert daher keinen besonderen persönlichen Einsatz. Anderen geht es schlecht? Was geht es mich an, die sind selber schuld, das ist ihr Karma, sie haben nicht über viele Leben hinweg Guthaben gehortet. Sie sind also selber schuld.

Neben diesem Bankkonto gibt es aber auch, so scheint es, noch eine andere Vorstellung, die ich an dieser Stelle einmal als "Frau-Holle-Prinzip" bezeichnen will. Über dem Einzelnen wird hierbei, abhängig natürlich vom Ausmaß der Intimität der Beziehung zur "Göttin", Karma nach Goldmarie-und-Pechmarie-Art ausgeschüttet: Wenn ich immer lieb bin, bekomme ich gutes Karma, wenn ich aber nicht lieb bin, dann bekomme ich schlechtes Karma - Zuckerbrot und Peitsche. Wenn ich lieb bin, gibt mir die Mami ein Stück Kuchen. Lieb sein, so scheint es oft, hat hierbei allerdings meistens etwas zu tun mit billigen, ganz individuellen Rechtfertigungen, weniger mit allgemeingültigen Handlungsmaximen. Ich bin gerecht, also lieb, weil ich im Recht bin - ich muss es nur rechtfertigen können. Kein Problem, wenn ich jederzeit intuitiv weiß, was richtig ist (und ich weiß das natürlich - und die, die das nicht wissen, sind die Leute mit den schlechten Beziehungen und/oder dem schlechten Bankkonto). Intuition äußert sich für gewöhnlich als "so´n Gefühl" --- wie auch sonst!? Und wenn jemand anderes auf die gleiche Weise handelt, ich mich aber davon gestört fühle, dann ist beides natürlich auf gar keinen Fall vergleichbar, denn jeder weiß ja: Wenn zwei das gleiche tun, dann ist es noch lange nicht dasselbe. Es liegt auf der Hand, dass der Störenfried jemand ist, der aufgrund seines Karmakontos und seiner schlechten Beziehungen (natürlich in aller objektiven Klarheit erfühlt vom Gestörten) auf gar keinen Fall das Recht hat so zu handeln, wie man selber es bei ähnlichen Gelegenheiten zu tun pflegt. Man selber ist also das Goldkind mit den guten Beziehungen zur Göttin und entsprechend gutem Karma und der Störenfried ist das Arschloch mit dem schlechten Karma.

Überhaupt klingt "schlechtes Karma" wie eine Art Krankheit. Man bekommt es so ähnlich wie z.B. eine Grippe. Außerdem scheint "Karma" in vielen Fällen hauptsächlich sowieso zu tun zu haben mit eigenem Wohlbefinden und anderer Leute Unglück: Wenn es mir selber finanziell (gesundheitlich etc.) gut geht, dann ist das gutes Karma und wenn mein nerviger Nachbar erst mit Grippe im Bett liegt und dann an einer Lungenentzündung stirbt, dann wirkt sich natürlich (zu meiner Genugtuung) sein schlechtes Karma so aus. Geht es mir hingegen beispielsweise finanziell nicht so gut, während mein unangenehmer Nachbar sich eine goldene Nase verdient, dann hat das meist nichts mit Karma zu tun sondern damit, dass die Gesellschaft so gemein ist, Europa von den bösen Christen beherrscht wird o.ä.

Was ich hier so überspitzt formuliere, ist tatsächlich ein Prinzip, das mir immer wieder begegnet. Diese Vorstellung von Karma ist letztlich nichts anderes, als ein Hilfsmittel zur Abgrenzung eines ängstlichen und daher überheblichen Ego von einer als feindlich oder inferior gedeuteten Umwelt. Ähnlich verhält es sich auch mit den zum Karma-Begriff gehörenden Vorstellungen von Wiedergeburt: Ein merkwürdig dauerhaftes Ego legt seinen Körper ab und wabert zu einem neuen. Und da dieses Ego offenbar seit jeher gewisse Vorlieben hatte und überhaupt schon immer sehr romantisch war, suchte es sich im Laufe der Jahrtausende natürlich meist die Körper ägyptischer Pharaonen/Prinzessinen, sibirischer SchamanInnen, indianischer Medizinmänner und -frauen u.ä. Und Egos, deren Romantik schon immer ein wenig düsterer war, verkörpern sich natürlich als wiederkehrende Finsterlinge. Legion sind ja bekanntermaßen die (bisweilen etwas verwahrlost wirkenden) Reinkarnationen des armen Aleister Crowley - viele von uns kennen sicher die ein oder andere tragische Gestalt, die ihren Mangel an Persönlichkeit und Kraft über die Identifikation mit einem interessanten Menschen wie Crowley zu kompensieren versucht. Und das alles passiert für gewöhnlich auf der Basis der immer gleichen Reinkarnationsphantasie: der Körper stirbt, das Ego bewegt sich wie in einer Karmablase durch eine Zwischenwelt, landet dann wieder - plumps! - im Schoß einer Frau und bleibt ganz die alte Person im neuen Outfit, aber mit wenigstens unverändertem metaphysischem Bankkonto - damit man selber wieder genug Geld und Spaß hat und in Ruhe zusehen kann, wie der doofe Nachbar zur rechten Zeit an der Grippe stirbt.

Auf diese Weise werden sowohl der Karma-, als auch der Reinkarnationsbegriff, die eigentlich sehr klar zeigen, dass die Welt tiefgründig und wundervoll ist, zu reinem Gift.


Eine kleine Liebesgeschichte

Man sollte nun meinen, der metaphysischen Raffgier sei an dieser Stelle genug getan. Weit gefehlt: man möchte nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen über tausende von Jahren zusammen bleiben (von Ewigkeit zu Ewigkeit eben!). Hierzu ein kleines Beispiel: Eine Frau und ein Mann, nennen wir sie mal Kathrin und Michael, treffen sich auf - sagen wir einer Sonnenwendfeier. Beide sind seit einiger Zeit partnerlos und neigen dazu, ihre ewige Liebe in der Welt zu suchen. Sie treffen sich also (schon wieder), finden sich attraktiv (immer noch), halten das für Liebe (der Déjà-vu-Effekt), landen im Bett (wie zuvor im Heu, Wald o.ä.), haben daselbst ein wenig Sex. Sie stellen eine gewisse Übereinstimmung ihrer romantischen Phantasien fest und verlieben sich folgerichtig in das, was sie im anderen zu kennen glauben. Sie treffen sich also auch weiterhin, feiern eine "Heilige Hochzeit" nach der anderen und projizieren ihre Vorstellungen auf sich selbst und den Partner. So wird sie also kurzerhand die Frau aller Frauen (die Göttin) und er wird der Mann aller Männer (der Gott). Dieser Zustand wird nun kombiniert mit wirren Vorstellungen von Karma und Reinkarnation. Michael und Kathrin verwandeln sich in Tristan und Isolde --- und vor ihnen liegt die Ewigkeit (was auch sonst!?). Gewiss werden sie (als Kathrin und Michael?) in alle Ewigkeit miteinander verbunden bleiben. Über den Tod hinaus --- über alle Tode hinaus --- halt in alle Ewigkeit.

Dies also bildet die Basis eines Dramas, das sich jetzt langsam zur Tragödie entfalten kann. Denn nun verbringen sie jede freie Minute miteinander. Ewige Liebe bedeutet ja schließlich, dass man nicht mehr voneinander lassen kann, will und darf. Und natürlich braucht man sich wie die Luft zum atmen. Ein jeder braucht nunmehr den anderen, wie Narziss sein Spiegelbild.

Leider hat Existenz die Eigenart, niemals wirklich derartigen Idealen zu entsprechen. Stets weigert sich dieses Miststück, sich solchen romantischen Vorstellungen anzupassen. Immer gibt es Abweichungen. Unter der glatten Oberfläche der Harmonie gibt es Kanten und mehr und mehr muss sich unser Pärchen die Dinge schönreden - ein jeder für sich. So langsam wird es aufgrund der jeweiligen psychischen Strickmuster explosiv. Unsere Kathrin fühlt sich vielleicht eingeengt und bedroht, wenn sie mal Kompromisse eingehen oder sich selber hinterfragen muss. Besser nicht! Schließlich wollte sie stets aus der breiten Masse herausragen und wollte sich nie einfügen in die Enge eines Frauenbildes, in dem die Frau gehorsame Handlangerin ihres Mannes ist, etwa so, wie es vielleicht bei Kathrins Mutter oder Großmutter der Fall war. Außerdem ist sie ja heidnische Priesterin, also die Repräsentantin der Göttin, quasi die Göttin selbst - und dadurch immer im Recht. Die Konsequenz scheint zu lauten: Tu wozu du Lust hast und setze dich zur Wehr, wenn Du dabei auf Grenzen stößt, denn Grenzen sind ein Synonym für patriarchale Unterdrückung.

Und Michael? Nun, der hat vielleicht nie gelernt wirklich zu sich selber zu stehen und sein Kopf ist möglicherweise übervoll von absurden Kriegerphantasien und damit verbundenen Vorstellungen davon, was z.B. Ehre sei. So bringt er es nicht fertig, seine im romantischen Überschwang gemachten Äußerungen ein wenig zu revidieren und zu sagen: Die Frau meines Lebens existiert leider nur in meinem Kopf und hat mit der tatsächlichen Person nicht besonders viel zu tun. Darüber hinaus ist in unserem Beispiel sein Ego noch nicht gar so sehr übermäßig aufgebläht wie das ihre, d.h. er sieht sich noch nicht als Gott und kann daher dem grandiosen Ego seiner "Geliebten" noch nicht genug entgegensetzen.

So lügen sich beide in die Tasche, um nur ja den romantischen Schein zu wahren --- bis einer von beiden sich in den Phantasien seiner grotesk aufgeblähten (dabei dennoch sehr instabilen) Egowelt verloren hat und der andere sich umbringt, weil er den andauernden Selbstverrat nicht mehr ertragen kann und Angst vor der Konsequenz einer einfachen Trennung hat.


Spiritualität vs. Privatreligion

Und was hat all das nun mit Karma und Reinkarnation zu tun? Nichts. Und gleichzeitig auf einer etwas anderen Ebene sehr viel, denn das, was ich hier geschildert habe, ist Ausdruck und weitere Ursache negativen Karmas, wie ich später noch zeigen werde. Die geschilderten Vorstellungen sind zunächst nichts weiter, als unreflektierte Phantasien. Es hat nichts zu tun mit dem, was die Begriffe Karma und Reinkarnation bedeuten, damit, wie sie tatsächlich seit tausenden von Jahren in wirklichen alten Traditionen verstanden werden. Im Grunde hat es nicht einmal allzu viel mit Spiritualität zu tun. Spiritualität, die sich auf blanken Eskapismus in private Phantasiewelten beschränkt, ist keine Spiritualität, sondern bestenfalls gläubige Privatreligiosität.

Echte Spiritualität hat m.E. zu tun mit umfassender und damit transpersonaler Wirklichkeit, ist dadurch zwar sehr wohl auch durch die Mittel der Sprache und der Logik ausdrückbar, liegt jedoch jenseits aller kulturellen und sprachlichen Begrenzungen. Darüber hinaus bildet ein spirituelles System, das sprachliche Equivalent also zu inneren Erfahrungen mit dem Absoluten, eine sprachliche und bildliche Einheit, in der sich die Begriffe gegenseitig erklären, so dass über die logisch-begriffliche Form die Erfahrung des hinter allen Begriffen stehenden Absoluten reproduziert werden kann. Da es um dieses Absolute geht, ergeben sich, bei Auslassung spezieller kultureller Komponenten (z.B. sozialer Normen, die ebenfalls in so ein System eingebaut sein können), trotz sprachlicher Unterschiede Parallelen in den verschiedenen spirituellen Systemen, denn das Absolute selber bleibt immer gleich, nur die sprachlichen Äquivalente sind - aufgrund der Relativität von Sprache - verschieden. Dem gegenüber stehen private Ego-Welten, die, da sie in religiösen Vokabeln und abhängig von Lust und Unlust lediglich die Innenwelt eines Egos zum Ausdruck bringen, oft kaum mehr sind, als bloße Flickenteppiche aus unzusammenhängenden Konzepten. Vielleicht rührt daher die in Esokreisen so sehr grassierende Neigung zur Intellektfeindlichkeit, da diese Begriffsgebilde in sich zu instabil sind, als dass sie einer Hinterfragung standhalten könnten.

In der neuen Esoterik stehen also so allerlei Konzepte stets merkwürdig isoliert und undifferenziert nebeneinander: Karma - Reinkarnation - Natur ist Heilig - Göttin und Gott - Magie - der Kreis - feindliche Christen - Umweltzerstörung - Unterdrückung - Stadt - Naturvölker - Aggressoren - Opfer etc. Mittendrin steht die neuheidnische Person, dualistisch wertend: Ist selber naturreligiös, Priesterin oder Priester und eins mit der Natur; steht dadurch neben den "Naturvölkern", ist damit Opfer und gehört nicht zu den Tätern; verehrt Göttin und Gott, betreibt Magie und hat dadurch Intuition; kann durch die Intuition, die sich als "so´n Gefühl" äußert und immer im Recht ist, festlegen, wer zu den Feinden und Tätern zählt; Feinde und Täter agieren gegen die Natur; Aggression gegen die Feinde und Täter ist Verteidigung der Natur; das, was verteidigt wird, ist die Natur, die Natur sind die Götter, die Götter sind das eigene Selbst... Selbst-Verteidigung. Dienst an den Göttern ist somit Dienst am eigenen Selbst. Wird das eigene Selbst als Gottheit betrachtet, wird folglich jeder, der diesem grandiosen Selbst nicht genehm ist zum Feind. Dies ist der vollkommene, spirituell verbrämte Egotrip, spiritueller Materialismus, die perfekte Pervertierung von Spiritualität und Einheit mit der Natur.

Ich will an dieser Stelle nur kurz einwerfen, dass natürlich letztlich auch der bei dieser Sichtweise verwendete Naturbegriff nicht das geringste mit Natur im absoluten (und dadurch auch heiligen) Sinne zu tun hat, denn es handelt sich lediglich um ein ego- und anthropozentrisches Idealbild, dessen Wert einzig aus dem Bezug zum Ego und dem damit verbundenen Lustgewinn resultiert. Die wirkliche Natur schließt alle Erscheinungen mit ein und ist in keiner Weise vom Menschen antastbar, da er selber in jeder Hinsicht ein untrennbarer Teil dieser Natur ist. Unterscheidungen z.B. in Natur und Stadt sind ein Ding der Unmöglichkeit und ein Begriff wie "Naturzerstörung" eigentlich absurd. Alles, was der Mensch zerstören kann, ist seine Lebenswelt, somit seine eigene Existenzgrundlage und somit in letzter Konsequenz sich selbst, niemals aber die Natur. So schafft die Menschheit ein Karma, das sie selbst verschwinden lässt. Und insgesamt gesehen wäre das ja vielleicht sogar gut.



Die Leerheit der Erscheinungen

Doch zurück zum Thema. Karma in seiner eigentlichen Bedeutung zu begreifen, bedeutet zu verstehen, was es wirklich auf sich hat mit der Einheit aller Dinge. Und ein wichtiges Hilfsmittel kann hierbei das Symbol des magischen Kreises (sanskrit: Mandala) mit seiner Elementeaufteilung sein, aber dazu kommen wir später. Karma ist ein Sanskritwort und bedeutet wörtlich "Tat". Will man verstehen, was damit gemeint ist, hält man sich zunächst einmal vor Augen, dass alle Erscheinungen leer sind. Leerheit ist die Grundlage von allem. Manch einer mag hier fragen: Was soll das jetzt wieder heißen? Nun, Leerheit ist nicht das Nichts, sondern sie ist Ausdruck für den Urgrund. Leerheit ist das, was alle Erscheinungen verbindet. Leerheit ist die Leerheit der Erscheinungen von inhärenter Eigenexistenz; d.h. der Glaube, dass die Erscheinungen der Dingwelt unabhängige Größen darstellen, ist eine Illusion. Zwei Punkte gilt es zu erkennen: 1) Dinge entstehen in Abhängigkeit von anderen Dingen und bleiben in dieser Abhängigkeit bis zu ihrem eigenen Verschwinden. 2) die Erscheinungen sind zusammengesetzt, das heißt Dinge bestehen aus Dingen bestehen aus Dingen etc. pp. Das bedeutet, dass alles relativ ist, also in Beziehung zu etwas anderem existiert. Diesem Relativen steht die Leerheit als das Absolute gegenüber, oder besser: alles Relative ist vom Absoluten der Leerheit durchdrungen.

Nehmen wir zur Verdeutlichung einmal unseren fiktiven Michael aus dem oben genannten Beispiel: Die Erscheinung Michael ist weder eine eigenständige, noch eine in irgendeiner Beziehung unabhängige Größe. Er ist zusammengesetzt aus Millionen Zellen. Um existieren zu können, braucht er ein bestimmtes Gasgemisch zum atmen, das in seiner Zusammensetzung keine allzu großen Abweichungen zugunsten eines einzelnen seiner Bestandteile aufweisen darf. Er braucht eine bestimmte Temperatur. Bereits relativ geringe Verschiebungen nach oben oder unten auf der Temperaturskala würden ihn verbrennen oder erfrieren lassen. Er benötigt regelmäßige Zufuhr von Wasser und fester Nahrung (die ihrerseits eine bestimmte Beschaffenheit aufweisen müssen) und die regelmäßige Ausscheidung der aus dem Verarbeitungsprozess entstehenden Schlacken. Auf diese Weise entsteht und vergeht der Körper in Abhängigkeit. Aber nicht nur der Körper allein. Ausnahmslos alles an unserem Michael ist ununterbrochen in Bewegung und Wandel. In jedem Augenblick sterben abertausende seiner Zellen, während andere, neue sich bilden. In jedem Moment werden all seine Überzeugungen und Erfahrungen von ihm angewandt, geprüft, korrigiert und bei Bedarf durch neue ersetzt. Seine Person ist wie alles andere auch ein ununterbrochener Prozess des Wandels. Blickte er zurück, er würde feststellen, dass der erwachsene Mann Michael in keiner Hinsicht identisch ist mit irgendeiner seiner früheren Erscheinungsweisen, da zu jedem früheren Zeitpunkt sich alle seine Bestandteile von allen Bestandteilen des jetzigen Michael unterschieden (ausgenommen seine DNS, die man als Schablone des Formaspektes betrachten kann). Dies alles gilt sowohl in physischer, wie auch in psychischer Hinsicht.


Emotionen und Energie

So nun verhält es sich mit der ganzen Person. Die Emotionen etwa sind abhängig von erlernten Deutungsmustern, von Maßstäben, geglaubten Idealen u.ä. Gerade Emotionen werden ja in der Esoszene so gerne überbewertet, als eigenständige Größen, als etwas Absolutes also betrachtet - aber genau das sind sie nicht. Wären sie das, so wären sie bei allen Menschen in allen Kulturen und Kontexten gleich. Sind sie aber nicht. Sie sind noch nicht einmal in einem einzigen kulturellen Kontext bei allen Menschen gleich. Und das ist so, weil sie erlernt sind. Sie haben ihre Grundlage in den Deutungsmustern, die sich zurückführen lassen auf den Dualismus Gut/Schlecht. Diese Deutungsmuster unterscheiden sich von Kultur zu Kultur, von Familie zu Familie, von Person zu Person. Emotion ist im Kern nichts anderes als reine, ungefärbte Energie, die erst durch Konditionierung ihre Färbung erhält und zu etwas wird, das man "Emotion" nennt. Allerdings, um hier sofort einem weiteren möglichen Missverständnis vorzubeugen, heißt das nicht, das Emotion die Erfahrung von Energie im egozentrischen Sinne - "meine Emotion ist Energie" - ist (womit wir dann wahrscheinlich wieder bei diesem dubiosen "Fühlen" wären), sondern dies ist eine Erscheinungsform von Energie - genauso wie Denken und Wahrnehmung oder auch das, was als scheinbar äußere Welt erscheint.

Mit "Energie" sind wir hier nun auch bei einem weiteren, für unser Thema relevanten Schlüsselbegriff. Zurück also zum magischen Kreis. In der heute allgemein verbreiteten Variante haben wir die Aufteilung in vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft. Ich füge nun, ganz Traditionalist, an dieser Stelle noch ein fünftes hinzu: den Raum, das Element der Integration. Diese fünf Elemente nun meinen natürlich nicht nur die Erscheinungen, die wir mit unseren menschlichen Sinnen unter diesen Bezeichnungen wahrnehmen, sondern sie meinen sehr viel mehr. Sie bezeichnen energetische Qualitäten. Ein jedes Element ist in seiner Essenz Licht und äußert sich sowohl als äußeres Element, wie auch als Bewusstseinsfaktor. Als Bewusstseinsfaktor ist Erde das Prinzip der Form, Wasser ist Empfindung (als wahrnehmende Qualität, nicht Gefühlsduselei!), Feuer ist unterscheidendes Gewahrsein, Luft ist der Gedankenstrom und Raum ist absolutes Bewusstsein, das all dies umfasst und beinhaltet. Aus diesen fünf Elementen besteht alles. Aber es besteht nicht statisch (wie es offenbar viele gerne hätten - womit sie einfach nur beweisen, dass sie in christlichen Strukturen denken), sondern ist ununterbrochene Bewegung, wie Wolken am Himmel. So kommen wir hiermit auch auf noch eine weitere Bedeutung von Leerheit: Die Negation der Existenz kleinster Teilchen. Wenngleich wir auch eine materielle Welt wahrnehmen, die fest zu sein scheint, ist doch ihre wahre Natur reine Energie. Es gibt keine kleinen, festen Materieteilchen, aus denen Materie zusammengeklumpt ist.

Hier mag vielleicht auch klar werden, dass manchen Personen die im Westen so weit verbreitete Idee (christlichen Ursprungs, sofern es Europa betrifft) einer Trennung von Geist und Materie als etwas komplett absurdes erscheint. Dies schließt natürlich auch gerade das Phänomen des spirituellen Materialismus mit ein.


Was ist Karma?

An dieser Stelle haben wir jetzt also drei Punkte soweit geklärt (hoffentlich!): Die Leerheit der Erscheinungen, die Zusammengesetztheit der Erscheinungen, den Wandel der Erscheinungen als Bewegung der fünf Energien, also die Negation kleinster Teilchen. Kommen wir also nun zu einer weiteren Dreiheit: Die drei Ebenen unserer Existenz als Menschen. Die drei Ebenen, um die es hier geht sind Körper, Energie (korrespondierend zur Stimme) und Geist, wobei der Geist die Grundlage bildet. "Geist" bedeutet hierbei aber nicht z.B. Intellekt oder so etwas. Geist bedeutet hier absolutes, kontinuierliches Bewusstsein - die (überindividuelle!) Grundlage. Intellekt und Gedankenstrom gehören einem anderen Bereich an, dem sogenannten konzeptuellen Geist, der vor allem mit dem Bewusstseinsfaktor Luft verbunden ist.

Auf diesen drei Ebenen entsteht Karma. Wie bereits erwähnt, bedeutet der Begriff Karma "Tat" - und genau darum geht es hier. Die individuelle Erscheinung ist bereits in ihrer Gesamtheit der Ausdruck früherer karmischer Impulse, die jetzt zur Reife gelangt sind. Teil dieses Karmas sind auch die für vollkommen wahr und dauerhaft gehaltenen Konzepte, nach denen die Welt interpretiert wird. Diese Interpretationen wirken ihrerseits auf die Art, wie die Welt wahrgenommen wird, die damit verbundenen Emotionen und die daraus resultierende Interaktion mit der Erscheinungswelt. Anders ausgedrückt: In unserem Geist entwickeln wir Konzepte, die wir für wahre Abbildungen der Welt halten; auf der Ebene unserer Energie formen wir diese Konzepte weiter aus zu immer mehr inneren Bildern und damit verbundenen Emotionen, die wir schließlich auch sprachlich ausdrücken; zu guter Letzt folgt dann die entsprechende körperliche Handlung. Wo alle drei Ebenen beteiligt sind, ist volles Karma erfüllt.

Wir bewegen uns in einem Netz vollkommener gegenseitiger Bedingtheit, das bereits ein einziger gigantischer Ausdruck von Karma ist. Karma bedeutet, dass wir in dieser gewaltigen, ständig bewegten Energiewolke genannt Welt einen energetischen Impuls setzen, der zur Veränderung des gesamten Musters beiträgt. Die Art der Veränderungen, die so entstehen, und die Art, wie all dies dann auf uns zurückwirkt und wie wir es erleben, ist Karma, das zur Reife gelangt. Der von uns gesetzte Impuls ist dann am machtvollsten, wenn alle drei Daseinsebenen gleichermaßen beteiligt sind. Sehr grob vereinfacht könnte man sagen, dass "Karma" soviel bedeutet wie "Denk- und Handlungsgewohnheiten, die zu Veränderungen in der erlebten Welt führen". Karma lässt sich vergleichen mit einer Eisenbahn: Die Lokomotive ist das erlebende Ego, das sich für eine eigenständige Größe hält, die Schienen sind die Gewohnheiten im Denken, Reden und Handeln und die Landschaften, in die das ganze führt, sind das reifende Karma.


Vom Umgang mit Karma

Mir scheint, dass Menschen, die sich als "naturreligiös" bezeichnen, geradezu verpflichtet sind, über diese Dinge einmal ehrlich nachzudenken, denn Aussagen wie "alles ist miteinander verbunden" oder "die Göttin ist das Leben und sie ist der Ursprung von allem" o.ä. bleiben reine Phantasmen und hohle Phrasen, wenn nicht über tiefe Reflektion (mit Einbeziehung formeller Logik) und echte Meditation (also nicht nur das schlichte Ausmalen hübscher bunter Märchenbilder!) ein tatsächliches Verständnis entsteht, dem dann kompromisslos die individuelle Lebenswelt angepasst werden muss. Ein Prozess, der sicher nicht ganz einfach und teilweise sogar ausgesprochen schmerzhaft ist, denn man muss lernen, vor sich selber vollkommen aufrichtig und auch streng zu werden. Wir müssen dann z.B. genau durchleuchten, wo wir in unserem Denken auf die ewiggleichen europäischen Denk- und Deutungsmuster zurückgreifen, die seit Jahrhunderten so viel zerstören und - das mag ein wenig ketzerisch erscheinen - auch in heidnische Zeiten zurückreicht. Einfach nur "heidnische" Worte und Parolen zu verwenden macht einen nicht zum naturreligiösen Heiden. Und der schlichte Versuch, eine romantisierte Vergangenheit wieder zu beleben ist eigentlich nur albern und ignorant. Die europäische Gesellschaft hat sich in den letzten 1500 Jahren weiterentwickelt - und nicht nur zum Negativen. "Zeit" ist ein mächtiger Aspekt des Wandels, Wandel ist eine magische Eigenschaft der Natur, also ist die Vorstellung, Zeit zurückdrehen zu wollen widernatürlich! Wessen "Naturreligiosität" sich also darauf beschränkt, eine angeblich so wunderbare vorchristliche Vergangenheit zu beschwören und in seiner Freizeit einen heidnischen Barbaren zu spielen, der ist widernatürlicher und weiter von echter Naturreligiosität entfernt, als manch ein aufrichtiger Katholik, für den die Welt eine Schöpfung Gottes und damit ein Wunder ist - und diese Art Christen, das sollte einmal zur Kenntnis genommen werden, gibt es auch!

Notwendig ist also achtsame Selbstreflektion. Hierbei sollten die Begriffe "Relativ" und "Absolut" in das Denken unbedingt einbezogen werden. "Relativ" bezeichnet Konzepte, die abhängig sind von einer Kultur und einem Punkt in der Zeit, "Absolut" hingegen ist das Umfassende, alles einschließende --- und in gewisser Hinsicht dann auch Aussagen, die darauf verweisen. Diese beiden Begriffe können dann als Messlatten für "spirituelle" Aussagen dienen. Eine Aussage etwa wie z.B. "Wir atmen die große, allumfassende Liebe" ist an eben diesen Messlatten nichts als kompletter Nonsens. Warum? Weil hierbei eine äußerst schwammige Emotion, die in extremer Form von Zeit, Kultur, Sichtweisen etc. abhängig ist, in die Welt projiziert wird. Die Empfindung, die wir gemeinhin mit "Liebe" bezeichnen, ist der absoluten Welt nicht inhärent. "Liebe" bezeichnet eine Form von Emotion, die Zugehörigkeit und Fürsorge zum Ausdruck bringt, also Eigenschaften, die sich an sozialen Arten, wie dem Menschen etwa, finden und dafür sorgen, dass ein Zusammenleben der Individuen - trotz ihrer dualistischen Getrenntheit - überhaupt möglich ist. Somit betrifft sie in jeder Hinsicht den Bereich des Relativen. Sicherlich ist es gut, wenn sich eine solche Empfindung, die fähig ist, alle Erscheinungen gleichermaßen liebend wahrzunehmen, in uns entwickelt, aber wir müssen auch erkennen, dass sich eine solche Haltung nicht künstlich herbeiführen lässt (was herbeigeführt wird, ist einfach nur gekünstelt) und nicht der Welt inhärent ist. Eine solche Empfindung der inklusiven Liebe ist die natürliche Folge echter Spiritualität, in deren Zentrum die Entwicklung eines Geistes steht, der weit, offen und klar, also nicht befleckt von dualistischen Konzepten aller Art, die Welt als Spiegelung des Göttlichen und somit seiner eigenen (überindividuellen!) Natur wahrnimmt. Diese Wahrnehmung führt zu der Erkenntnis, dass alle Erscheinungen im Kern gleichermaßen rein und schön sind. Dadurch schließlich können wir in positive Kommunikation mit den Ebenen der wirklichen Welt treten. Und das ist Spiritualität und Magie.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass die Auseinandersetzung mit Karma in seiner eigentlichen Bedeutung m.E. wirklich dazu führen kann, den Käfig der Konzepte zu überwinden und dadurch die Entwicklung einer reiferen Persönlichkeit einzuleiten, die dann auch für alle anderen von höchstem Nutzen ist - und dieser Nutzen ist etwas, was in allen Kulturen die Magier und Schamanen auszeichnet. Der oben geschilderte spirituelle Materialismus ist letztlich nur ein weiterer Beitrag zu der hasserfüllten Zerstörungswut, die unsere ganze Welt durchzieht und mit deren Folgen wir beim Betrachten der Tagesnachrichten oder auch bei einem einfachen Waldspaziergang konfrontiert werden. Hier hilft kein Lamentieren und keine Flucht in märchenhafte Phantasiewelten. Indem wir diese Dinge wahrnehmen, sehen wir Aspekte unserer selbst, denn wir sind untrennbar mit allem verbunden. Wer also spirituelle Naturreligiosität leben will, der soll die Einswerdung mit der wunderbaren Welt anstreben und die Denkmuster von Egozentrik, Hass, Zerspaltung etc. überwinden lernen. Indem wir uns selber so verändern, verändern wir die Welt.

Sonntag, 7. Februar 2010

Der Wolf, ein Symbol im Spiegel des Zeitgeistes

© Anissa Henze und Oliver Ohanecian

Der Mensch ist ein Sinn gebendes Wesen:Im ungeteilten Ganzen der Welt belegt er die Erscheinungen mit Bedeutung und bezieht sie in das System seiner sprachlichen Zeichen und gedanklichen Ordnungen mit ein. Das Geflecht dieser Bedeutungen, in die sich die Individuen verstricken, nennen wir Kultur. Der Wolf ist als biologisches Wesen eine Erscheinung der ungeteilten Welt, wird aber im Übrigen vom Menschen in dessen Vorstellung stets aufs Neue erschaffen. Es finden sich unzählige Geschichten, Fabeln, Sprichwörter und Abwehrzauber über und auch gegen den Wolf im Fundus von Brauchtum und Mythologie der Völker. Er dient hierbei als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Bedeutungszuschreibungen, in denen sich die jeweiligen sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse widerspiegeln, wie auch das Bild, das sich der Mensch von der Natur, den Tieren und sich selber macht.

Die Darstellung des Wolfes in der Kulturgeschichte weist einen großen Facettenreichtum auf, der von der Widersprüchlichkeit lebt. Gerade weil dem Wolf mit zwiespältigen Gefühlen begegnet wird, die von Angst bis zu Faszination reichen, ist er als Symbol in unzählige Sprichwörter, Fabeln und mythologische Deutungen eingegangen. An dem einen Ende dieses Spektrums der Deutungen steht das Bild der wilden Bestie und diesem diametral entgegengesetzt am anderen Ende das Bild der fürsorglichen Mutter.


Ungezügelte Wildheit und dumme Stärke

Im Jahre 1756 schrieb John Adams, der sechste amerikanische Präsident, folgende denkwürdige Worte:

"Der gesamte Erdteil war, so weit das Auge reichte, eine einzige, trostlose Wildnis, in der Wölfe, Bären und noch wildere Menschen hausten (...) Nun sind die Wälder gerodet, und das Land ist mit Kornfeldern, mit Obstbäumen, die sich unter der Last der Früchte biegen, und mit prachtvollen Behausungen vernunftbegabter, gesitteter Erdenbürger bedeckt."

Die trostlose, weil ungezähmte Wildnis, von der hier die Rede ist, stellt das unzulängliche, weil "unzivilisierte" Pendant zur domestizierten Natur dar, die den Bedürfnissen "vernunftbegabter und gesitteter Erdenbürger" angepasst ist. Die Wildnis und die dem Wolf innewohnende Wildheit als Bewohner der Wildnis ist ein Symbol für die Unwägbarkeiten der ungezähmten Natur und der ungezähmten, animalischen Seite des Menschen. Der Wolf erscheint gleichsam als eine Art Spiegelbild der nicht zivilisierten Seiten des Menschen, die dieser nicht wahrhaben will. Somit symbolisiert die Ausgrenzung oder Vernichtung des Wolfes die Unterwerfung und Überwindung der äußeren und inneren Natur des Menschen selbst. Innerhalb dieser Argumentationslogik erhält die Ablehnung und Verdrängung des Wolfes aus der Kulturlandschaft eine moralische Legitimation und wird darüber hinaus noch zu einer moralischen Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft. In dieser Sichtweise tritt der Wolf oft auch als der Gottlose in Erscheinung. Hierbei findet eine Ideenverbindung von "Wildheit" und "Gottlosigkeit" in der Figur des Wolfes statt. Und von hier ist es dann nur ein kleiner Schritt zum Bösen schlechthin. In der christlichen Bilderwelt findet er sich in dieser Funktion als Sinnbild des teuflischen Feindes, der die Herde der Gläubigen bedroht, dargestellt als Lämmer, die von Christus als wohlwollendem Hirten geführt werden. Er stellt hierbei gleichermaßen eine Bedrohung von außen dar, wie auch eine von innen, nämlich als Feind, der innerhalb der Gemeinschaft einen zersetzenden Einfluss ausübt, der Wolf im Schafspelz.

Der Überlieferung nach erscheint der Teufel, sobald er genannt wird. Die gleiche Überlieferung galt auch für den Wolf. Sprach man also seinen Namen laut aus, so erschien er. Dieser Glaube führte dazu, dass er Isegrim genannt wurde, um die Nennung seines Namens zu vermeiden. Isegrim leitet sich ab von Eisen-Grimm, wobei Grimm der Zustand der Wut oder des Zornes ist, der sich in kalte Verbissenheit verwandelt hat.

Im indoeuropäischen Sprachraum wurde der Wolf häufig als ein Symbol für Wildheit
und Gesetzlosigkeit betrachtet. Hierbei ist er ein Wesen, das sich außerhalb weltlicher Normen bewegt, d.h. "Wolf" ist in diesem Fall gleichbedeutend mit "Übeltäter", "Würger", "Bösewicht", "böser Geist" oder "Verbrecher". Das althochdeutsche Wort "warg" stellt in diesem Zusammenhang wiederum eine Verbindung zum Teufel her. Der Richtspruch "Thou art a warg!" verurteilte die Verbrecher zur Verbannung aus der Gemeinschaft und damit zum Leben in der Wildnis nach Art eines Tieres. Er wurde durch diesen Richtspruch nicht länger als menschliches Wesen betrachtet.

Die Assoziation des Wolfes findet auch ihren Niederschlag auf der Ebene der Sexualmoral. Hier erscheint er als zügellos und triebhaft, daher "unmoralisch". Der Wolf symbolisiert hier die Gier und einen maßlosen Hunger, den Wolfshunger, der ihn alle Moral vergessen und zum Dieb oder schlimmer noch zum Verführer kleiner Mädchen werden lässt. Seine blinde Gier wird ihm jedoch zum Verhängnis, so dass er am Ende z.B. vom viel schlaueren Fuchs überlistet oder vom wachsamen Jäger ertappt werden kann.

Der Wolf diente jedoch nicht allein als Symbol für furchteinflößende Wildheit, sondern wurde oftmals auch zur Zielscheibe für Spott und Häme. In vielen Fabeln erscheint er als tölpelhafter Trottel, der vom schwächeren, dabei aber sehr viel klügeren Fuchs überlistet wird. Der Wolf repräsentiert hierbei meist die Oberschicht, während der Fuchs für den Untertanen steht, der durch Raffinesse die jeweiligen Verhältnisse, die er nicht in Frage stellt, zu seinen Gunsten nutzen kann.

Der Verehrte

Der Wolf wurde allerdings nicht nur gefürchtet, gehasst und verspottet, sondern andererseits auch im Kontext kriegerischer Gesellschaften und magischer Aggressivität als magisches und kraftvolles Wesen verehrt.

Weit verbreitet ist das Thema des Wolfes als Ahnherr oder Mutter mächtiger Krieger. So erscheint etwa im „Buch vom Ursprung der Mongolen“ in der Ahnenreihe Dschingis Khans an erster Stelle „…ein vom hohen Himmel erzeugter, schicksalserkorener grauer Wolf“. In der Gründungslegende Roms erscheint der Wolf als nährende Mutter von Kriegern. Romulus und Remus, die Gründer Roms, wurden der Legende zufolge aufgrund einer Verfehlung ihrer Mutter in einer Kiste auf dem Tiber ausgesetzt. Sie wurden dann von einer Wölfin gefunden und aufgezogen. Später gründeten die Adoptivsöhne der Wölfin eins der kriegerischsten und aggressivsten Reiche der Geschichte. Kämpfende, heldenhafte Krieger wurden häufig mit wütenden Wölfen verglichen, da der Wolf mit Attributen wie Verwegenheit, Grimmigkeit, Unbezähmbarkeit und Kampfeslust belegt wurde. Und so erscheint der Wolf als ein Symbol für ein aggressiv-kriegerisches Heldenideal.

Diese Gleichsetzung des Wolfes mit Kampf und Krieg spielt auch in der Magie eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt wahrscheinlich durch die Gründungslegende behielt der Wolf z.B. in Rom seine positive Bedeutung bei. Er wurde mit dem Kriegsgott Mars assoziiert und so konnte das Erscheinen eines Wolfes vor einer Schlacht als Omen eines bevorstehenden Sieges gelten. Eine andere magische Funktion war der Schutz. Seit alters her versuchte der den Naturgewalten ausgelieferte Mensch, sich durch Abwehrzauber zu schützen. Neben eher abstrakten magischen Zeichen waren es oftmals Tiere, darunter eben auch der Wolf, denen die abwehrenden Kräfte innewohnen sollten. Im Falle des Wolfes sollte beispielsweise der offene Rachen, angebracht an der Haus- oder Hoftür, schädigende Einflüsse wie Diebe, Dämonen, Zauberer und Hexen fernhalten. Eine solche Ideenverbindung von „Wolf“ und „magische Wirkung“ drückt sich ebenfalls in der Verwendung von Eigennamen wie Wolfgang, Wolfram u.ä. aus. Durch die Magie der Namensoltlen hierbei die magischen Kräfte des Wolfes auf den Namensträger übertragen werden.

Wandlungen eines Symbols

Die Wolfsdeutungen bilden die vorherrschenden Deutungsmuster der soziokulturellen Umwelt ab. Aus ihnen lässt sich ablesen, welche Herrschaftsverhältnisse bestehen, welche moralischen Vorstellungen vorherrschen, wie die Menschen sich selbst in Beziehung zu ihrer Umwelt betrachten und schließlich lässt sich in den ambivalenten Deutungen des Wolfes die Ambivalenz des menschlichen Wesens erkennen. Oftmals wurden Wolfsdeutungen außerdem zu politischen Zwecken instrumentalisiert.

Lange Zeit teilten sich Mensch und Wolf die gleichen Lebensräume. In Jäger-Sammlerinnen-Gesellschaften gab es meist eine friedliche Koexistenz von Mensch und Wolf. Der Wolf tat sich an den menschlichen Abfällen gütlich, der Mensch jagte dem Wolf bisweilen die Beute ab oder lies in selbst zur Beute werden. Der Wolf war hier als Jäger bewundert und hatte als soziales Tier Vorbildfunktion.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Wolf änderte sich mit der landwirtschaftlichen Nutzung vormals ungenutzter Gegenden. Während die Bevölkerung wuchs, wurde der Wolf durch zunehmende Waldrodungen und den Jagddruck des Adels auf das Wild seiner Rückzugsmöglichkeiten beraubt, so dass er sich an den Nutz- du Haustieren der Bauern schadlos halten musste. Er wurde so zu einer existentiellen Bedrohung für die ländliche Bevölkerung, was ihm den gnadenlosen Hass einbrachte, der auch noch heute aufzuflammen scheint, wann immer irgendwo ein freilebender Wolf auftaucht. Das Bild des Wolfes hatte sich nun vom bewunderten Jäger zum Schädling und Jagdkonkurrenten gewandelt. Die ersten organisierten Wolfsjagden Europas fanden unter Karl dem Großen (742-814) statt.

In der christlich geprägten Weltsicht des Mittelalters war eine magische Denkweise vorherrschend, die auf der dualistischen Unterscheidung von Gut und Böse basierte und in der Welt dementsprechend Herrschaftsbereiche Gottes und des Teufels erblickte. Hier erscheint der Wolf als Teufelstier, dessen Augen wie die des Teufels leuchten und so den Menschen verblenden. Während der Reformation und Gegenreformation schließlich wurde er gar zum Antichristen selbst stilisiert.

Die Renaissance setzte der Verteufelung des Wolfes ein anderes Bild entgegen. Aufklärerische Ratio wurde großgeschrieben und sollte den Aberglauben und überkommene Herrschaftsstrukturen ablösen. Der Mensch erschien als Herrscher der Welt, der die Natur nicht zu fürchten hatte. Das Teufelstier erfuhr nun einen Wandel zum belächelten und verharmlosten Trottel.

Im 19. Jahrhundert wurde die Bewertung des Wolfes einem weiteren Wandel unterzogen, als frei nach Charles Darwins Theorie das Recht des Stärkeren propagiert wurde. Dieser Denkweise zufolge rechtfertigte allein das Fortkommen des „Fittesten“ , des am meisten Angepassten – repräsentiert durch den Wolf – den Untergang seiner Beute, des Schwächeren. Dieses „Naturgesetz“ galt nicht nur im biologischen Rahmen, sondern wurde auch auf soziale Verhältnisse übertragen und legitimierte frühkapitalistisches Machtstreben und die Ausbeutung der Massen. Parallel hierzu entstand ein zunehmend entfremdet-romantisierender Blick auf die Natur, in dem der Wolf nun als Herrscher der unberührten Natur weit entfernter nördlicher Wälder erschien.

In den vergangenen Jahrzehnten setzte eine zunehmend romantisierende Verklärung des Wolfes ein. Man denke an schaurig-schöne pastellfarbene Weichzeichnerbilder, die als Poster die Wände „naturliebender“ Romantiker, vielleicht auch des einen oder anderen „naturreligiösen“ Esoterikers oder Betonschamanen zieren. Auf einer entlegenen Lichtung steht ein einsamer Wolf und heult einen Mond an, der übergroß über dem Horizont hängt. Wie er so dasteht, vermittelt er gar wunderbar das ganze Leid und die Einsamkeit der missverstandenen, verfolgten Kreatur und zugleich einen Hauch von Abenteuer und Wildheit.

Hier kommt eine diffuse Sehnsucht nach unberührter Natur zum Tragen, die Idee einer Abkehr von der überregulierten Zivilisation. Der Wolf erscheint nun gleichermaßen als mahnendes Symbol für das Fehlverhalten des Menschen gegenüber der Natur einerseits, wie auch für ein als naturnah verstandenes Selbstbild andererseits. Er ist somit ein Sinnbild einer ungezähmten und unbezwingbaren Natur, die dem Zivilisationsdruck trotzt.

Naturkonzeptionen und Wolfsdeutungen

Was aber ist „die Natur“? Im Wesentlichen lässt sich das Verhältnis, das der Mensch zu seiner Umwelt einnimmt, in zwei gegensätzlichen Beziehungsmustern beschreiben. Das eine ist durch das Bestreben gekennzeichnet, die menschliche Dominanz in der Umwelt zu etablieren. Das andere zeigt sich in einer Haltung, die eine friedliche Koexistenz von menschlicher Lebenswelt und Umwelt anstrebt.

Die Konzeptualisierung von „Natur“ in Richtung auf das erstgenannte Beziehungsmuster nimmt Umwelt unter einer Nützlichkeitsperspektive wahr, die „Natur“ hierbei in die Kategorien „Nützlichkeit“ und „Schädlichkeit“ in Bezug af den Menschen aufteilt. „Natur“ erscheint hier vor allem als Kulturlandschaft, die vom Menschen auf seine eigenen Bedürfnisse hin strukturiert wird. Als Kulturlandschaft ist sie nutzbar und nur als solche wertvoll. „Natur“ wird dabei speziellen Räumen zugewiesen und dort bewundert. Ihre „Wildheit“ wird touristisch eingezäunt. Tiere werden in gleicher Weise in nützlich und schädlich eingeteilt. Nutztiere sind materieller Besitz, den es vor den schädigenden Raubtieren (im Sinne von Besitz raubend) zu schützen gilt. Somit werden Raubtiere wie der Wolf abgelehnt, wenn sie sich nicht in einem eigens für sie bereitgestellten Raum befinden.

Dem gegenüber steht die Idee einer friedlichen Koexistenz von Mensch und Natur. Es handelt sich um eine Naturkonzeption, in der „Natur“ grundsätzlich akzeptiert wird und nicht erst speziellen Räumen zugewiesen werden muss. Diese Haltung kann sich z.B. in dem Bestreben ausdrücken, die Natur schützen und bewahren zu wollen. Allerdings bleibt auch hierbei in vielen Fällen eine grundsätzliche Abspaltung des Menschen von der „Natur“ erhalten. Der Mensch bleibt oft eine Art außen stehender Betrachter, der auf „die Natur“ als etwas schaut, das er schützen und entweder formen oder lassen kann. Was hingegen häufig fehlt ist der Schritt, die grundsätzliche Untrennbarkeit von Mensch und Umwelt in Erwägung zu ziehen.

Der Mensch ist untrennbar in die ihn umgebende Biosphäre, das ungeteilte Ganze der Welt, eingebettet. Er atmet, isst und trinkt. Er benötigt eine Fülle von Faktoren, um existieren zu können – Faktoren, die Bestandteil der Biosphäre sind und an die sich der Mensch im Zuge seiner Entwicklung angepasst hat. Jede seiner Körperfunktionen drückt diese Anpassung aus. Es liegt in seiner Natur, die von ihm wahrgenommenen Erscheinungen zu benennen und diese Benennungen in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Allerdings werden die so gewonnenen sprachlichen Kategorien dann meist für die Wirklichkeit gehalten, während die Wirklichkeit hinter den Worten aus dem Sichtfeld verschwindet, denn wir haben als Menschen die Eigenart das wahrzunehmen, was wir felsenfest und in unserem tiefsten Inneren für wahr halten. Dieser Prozess an sich kann bereits eine Abspaltung von der umgebenden Wirklichkeit bewirken.

Die dargestellten Bedeutungen des Wolfes sagen letztlich wenig oder gar nichts über den Wolf aus. Sie spiegeln menschliche Vorstellungen, Ängste und Wünsche wieder. Allerdings trafen diese Projektionen zumindest in der Vergangenheit auf eine Projektionsfläche, die noch Teil der menschlichen Lebenswelt war. Der Wolf, der im ausgehenden Mittelalter von den Bauern gefürchtet, gehasst und verfolgt wurde, war für das Vieh tatsächlich eine sehr reale Bedrohung. Wie aber verhält es sich mit unserer Gegenwart? Wenn „Magier“, „Hexen“ oder „Schamanen“ unserer westlichen Industriegesellschaften den Wolf als ihr „magisches Seelentier“ entdecken und damit Bezug auf eine Umwelt nehmen, die bereits seit Jahrhunderten nicht mehr der erlebbaren Lebenswelt europäischer Menschen entspricht, wie weit geht dann die von ihnen behauptete „Naturnähe“? An dieser Stelle mag der Wolf noch eine weitere Bedeutung erhalten: Er gemahnt nunmehr an die immer weiter fortschreitenden Prozesse einer tief reichenden Abspaltung des Menschen von sich selbst.

Literatur:

Bächthold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens.

Biedermann, H. (Hrsg.): Lexikon der Symbole. Augsburg 2000

Bormann, N.: Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. München 1999

Caluori, U.: Der Wolf – Wildtier oder wildes Tier? Eine Deutungsmusteranalyse in der Schweizer Bevölkerung. Bern 2000

Masson, J.M.: Hunde lügen nicht. München 2000

Zimen, E.: Der Wolf. München 1993

Dienstag, 8. September 2009

Mystik als Weg zum Absoluten - ein kurzer Vergleich

© Oliver Ohanecian

Vergleicht man Beschreibungen der mystischen Erfahrung aus allen Teilen der Welt, so zeigt sich als gemeinsames Hauptelement die Erfahrungsdimension der Totalität, d.h. eine spirituell kompetente Person verläßt den Bereich gläubiger Religiosität und gelangt in einen Bereich lebendiger Erfahrung, der mit Begriffen der angestammten Religion umschrieben wird.

Als eine der augenfälligsten Gemeinsamkeiten in allen Formen der Mystik tritt die Überwindung des abgrenzenden Ego und der daraus resultierenden Verschmelzung mit der Totalität oder vielleicht besser: dem Absoluten, das als hinter den Erscheinungen ruhend und als ihre wahre Natur begriffen wird, hervor. Die gewöhnliche Lebenswelt erscheint als ein Prozeß der konzeptuellen Zersplitterung, der von diesem Absoluten wegführt. Der Weg der Mystik macht mit unterschiedlichen Methoden diesen Prozeß wieder rückgängig. Ein chassidischer Ausspruch hierzu scheint in seiner Parallelität zur buddhistischen Leerheitslehre auf eine gleichartige Erfahrung zu verweisen:

"Die Schöpfung des Himmels und der Erde ist die Entfaltung des Etwas aus dem Nichts, das Hinabsteigen des Oberen in das Untere. Aber die Heiligen, die sich vom Sein ablösen und Gott immerdar anhängen, die sehen und erfassen ihn in Wahrheit, als wäre das Nichts wie vor der Schöpfung. Sie wandeln das Etwas in das Nichts zurück. Und dies ist das Wunderbarere: das Untere emporbringen. Wie es geschrieben steht in der Gemara: 'Größer ist das letzte Wunder als das erste'."1

So gelangt der Mystiker aus der Welt der Zersplitterung in einen nichtdualen Bereich jenseits aller Konzepte. Entsprechend liegt es in der Natur dieses Zustandes, dass er sprachlich nicht ausdrückbar ist. Lediglich durch die Negation, die Metapher und das Paradox läßt er sich annäherungsweise umschreiben.

Das Absolute also ist nicht unmittelbar ausdrückbar. In der christlichen Schrift "Die göttlichen Namen"2 ist Gott das Allumfassende und dadurch Unaussprechlich-Geheime. Lediglich über eine Deutung der in der Bibel ausgeführten Namen Gottes lassen sich Aussagen über ihn machen und besonders begnadeten Menschen wird die Schau seines Abglanzes zuteil. Gott ist das, was jenseits jeder Grenze und außerhalb aller Gegensätze liegt. Er steht über allem denkbaren und ist der Urgrund allen Seins. Sein Wesen ist für den Menschen unfaßbar und unbegreiflich. Er ist der Allherrscher, der Alte der Tage, Äonen und Zeiten, also das, was sich jenseits aller zeitlichen Ausdehnung befindet. Er ist der Friede, der das Universum zusammenhält. Er ist Macht, die vor und jenseits aller Macht, Übermacht und Macht an sich ist. Er ist Gerechtigkeit, Heil und Erlösung. Er ist das Große, das Kleine, der Ruhende, der Bewegte und der Immergleiche. Er ist der Heilige der Heiligen, d.h. das makellos Reine. Als Inbegriff aller Befehlsgewalt und Herrschermacht ist er der König der Könige und der Herr der Herren. Seine Eigenschaft des allumfassenden und allüberragenden macht ihn zum Gott der Götter. Schließlich ist er als das Unerschaffene und Ewigerschaffende das Vollkommene und als Ursache von allem ist er das Eine.3

Der mystische Weg besteht nun darin, dass sich der Mensch zunächst der Symbole bedient, um nach seinen Möglichkeiten zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Von den Symbolen ausgehend kann er sich langsam stufenweise zu immer höherer Schau erheben, wobei er alle Versuche der Rationalisierung beenden muss4, denn die Wesenszüge Gottes sind, wie oben gezeigt, tiefgründige Wirklichkeiten, die letztlich mit Worten nicht mitteilbar sind. Mystische Gotteserkenntnis wird also nicht auf intellektuellem Wege erlangt, wenngleich auch der Intellekt ein Werkzeug auf dem Weg zu dieser Erfahrung darstellt. Der Mystiker muss bereit sein, sich außerhalb alles Erschaffenen zu stellen, d.h. über die verschlungene Dynamik der Erscheinungswelt und ihrer Formen hinauszugehen oder eine innere Distanz dazu zu gewinnen, um das unerschaffene Licht zu schauen, d.h. in die Dunkelheit Gottes einzudringen, die heller ist, als jedes Licht5.

Gerade diese paradoxe Licht-Dunkel-Symbolik, die das Licht des Absoluten in seiner Unerkennbarkeit für das dualistisch Begrenzte als Dunkelheit oder Finsternis beschreibt, findet interessante Parallelen in anderen Systemen der Mystik. So etwa auch in einem Kommentar zum kabbalistischen Buch Bahir von Rabbi Isaak von Akko (ca. 1310):

"Es gibt eine Finsternis, die nicht Finsternis an sich, sondern von uns aus ist, und das ist das große Licht, das allem Leuchtenden leuchtet und Finsternis heißt, weil es unerfaßbar ist; denn alles Unerfaßbare ist für den, der es nicht erfassen kann, 'Finsternis', wäre es auch ein leuchtendes Licht."6

Dunkelheit im Sinne der Mystik ist also eine Dunkelheit des Nicht-Wissens oder Nicht-Erkennens. Die Natur Gottes ist gleißendes Licht und die Natur der Welt ist Gott. Dementsprechend ist das Böse nicht etwa einfach nur gleichzusetzen mit der Finsternis, sondern vielmehr ist es das, was die Dinge aus ihrer Einheit mit Gott isoliert7. Aus der verblendeten Sicht des Egos entsteht die Illusion von Getrenntheit. In den Worten der Chassidim:

"Wer eine Frau sehr begehrt und ihre buntfarbnen Gewänder betrachtet, dessen Sinn geht nicht auf das Prunkzeug und die Farben, sondern auf die Herrlichkeit der begehrten Frau, die in sie gehüllt ist. Aber die Andern sehen nur die Gewänder und nichts mehr. So schaut, wer Gott in Wahrheit begehrt und empfängt, in allen Dingen der Welt nur die Kraft und den Stolz des Bildners des Urbeginns, der in den Dingen lebt. Wer aber nicht auf dieser Stufe ist, sieht die Dinge von Gott getrennt."8

Nicht-Wissen ist der Zustand des Egos, Mystik ist die Beendigung des Egos. Das Ego ist in seiner Abspaltung die Ursache leidhafter Zustände, deren größter der der Abspaltung selber ist. Meister Eckhart spricht hierbei vom Eigenwillen:

"Weißt du´s auch nicht oder dünkt es dich auch nicht so: niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Eigenwillen kommt, ob man´s nun merke oder nicht. Was wir da meinen, der Mensch solle dieses fliehen und jenes suchen, etwa diese Stätten und diese Leute und diese Weisen oder diesen Vorsatz oder diese Bestätigung - nicht das ist schuld, dass dich die Weise oder die Dinge hindern: du bist es (vielmehr) selbst in den Dingen, was dich hindert, denn du verhältst dich verkehrt zu den Dingen."9

Erst indem der Mensch das Ego beendet, kann er zu seiner wahren Natur und somit auch zu Gott gelangen, denn alles wird in ihm zu Gott:

"Fürwahr, ließe ein Mensch ein Königreich oder die ganze Welt, behielte aber sich selbst, so hätte er nichts gelassen. Läßt der Mensch aber von sich selbst ab, was er auch dann behält, sei´s Reichtum oder Ehre oder was immer, so hat er alles gelassen."10

Wer den falschen Zustand ablegt, der findet Gott in sich. Wer ihn aber außerhalb sucht, "sei´s in Werken oder unter den Leuten oder an Stätten, der hat Gott nicht"11. In der islamischen Mystik sagt daher Maulana Jalaluddin Rumi (1207 - 1273): "Ich fand Gott in meinem Herzen"12 und von al-Hallaj (ca. 858 - 922) ist der Ausspruch überliefert:

"Zwischen mir und Dir (Gott) gibt es eine Ichhaftigkeit, die mich bedrängt. So hebe mit Deiner Ichhaftigkeit meine Ichhaftigkeit auf und beseitige die Trennung!"

Das Grundschema aller Mystik scheint also im Wesentlichen zu sein: Die Aufgabe des Ego mit seinen Bindungen und Konditionierungen; das Erreichen von Gleichmütigkeit; das Erreichen eines als glückhaft empfundenen Zustandes inneren Friedens; die Vereinigung von Subjekt und Objekt; schließlich das Erreichen eines höchsten Zustandes, der mit der menschlichen Sprache nicht mehr beschreibbar ist13, d.h. das Erreichen der Erfahrungsdimension der Totalität.

1Buber, Martin: Ekstatische Konfessionen. Darmstadt 1985: 222
2In dieser mystischen Schrift wird eine Lehre über das Wesen Gottes ausgebreitet, die von den biblischen Bezeichnungen Gottes ausgeht. Bock, Eleonore: Die Mystik in den Religionen der Welt. Zürich 1993: 394.
3Bock 1993: 394 - 400
4Bock 1993: 394 - 395
5Bock 1993: 402
6Scholem, Gerhard: Das Buch Bahir. Darmstadt 1989: 2
7vgl. hierzu auch Scholem, Gerschom: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Frankfurt a.M. 1977: 63
8Buber 1985: 221
9Zit. in: Becher, Gerd/ Elmar Teltow: Vom Frieden der Seele. München 1996: 147 - 148
10Zit. in: Becher/Teltow 1996: 148
11Zit. in: Becher Teltow 1996: 150
12Zit. in: Bock 1993: 317
13vgl: Bock 1993: 16 - 20

Grundlagen des Manichäismus

© Oliver Ohanecian


Im dritten Jahrhundert lehrte Mani, wie er selber berichtet, unter dem Einfluss seines himmlischen Zwillings ein religiöses System, das so sehr dem Zeitgeist entsprach und auf viele Menschen so überzeugend wirkte, dass es sich in kurzer Zeit zu einer Weltreligion entwickelte, die weit über tausend Jahre Bestand hatte. Eine wichtige Rolle mag hierfür der Umstand gespielt haben, dass der Manichäismus im Gegensatz zu vielen anderen gnostischen Gruppierungen jedem offen stand - er war eine Religion für alle.

Die manichäischen Missionare zogen westwärts durch Mesopotamien, Arabien, Ägypten, trugen ihren Glauben nach Nordafrika und in das Römische Reich, wo sie viele christliche Konvertiten fanden. Für lange Zeit wurde der Manichäismus als größte gnostische Strömung der stärkste Konkurrent des Christentums. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Konkurrenz sickerten viele Aspekte des Manichäismus in die Lehren der Kirche, wie auch in den Volksglauben. Der Kirchenvater Augustinus (gest. 430) war neun Jahre lang ein manichäischer Auditor, ehe er sich zum christlichen Glauben seiner Mutter bekehrte[1].

In östlicher Richtung breitete sich der Manichäismus entlang der Seidenstraße über Iran, Afghanistan, Indien, Turkestan und Zentralasien bis nach China aus. Die Uiguren wurden im frühen 8. Jahrhundert bekehrt und machten den Manichäismus 762 zur Staatsreligion. Manichäer waren außerdem vielfach bei Muslimen beschäftigt, die ihre Integrität, ihren Fleiß, ihre mathematischen und astronomischen Kenntnisse, wie auch ihre künstlerische Geschicklichkeit schätzten. Weit über tausend Jahre war der manichäische Einfluss auf Buddhismus, Christentum und Islam wirksam[2].


1. Gnosis und Gnostizismus

Gnostizismus ist ein religionsgeschichtliches Phänomen, das wie kein anderes die Entwicklung des europäischen und - bedenkt man seine heutige Ausbreitung und Wirksamkeit - "modernen" Denkens nachhaltig beeinflusst und geformt hat. Der griechische Terminus "Gnosis" bedeutet Erkenntnis, doch ist diese Erkenntnis nicht einfach eine intellektuelle Einsicht, sondern ein befreiendes Erkennen des Wesens der Welt und der göttlichen Geheimnisse. Der Gnostizismus, das Religionsphänomen, dessen zentrales Element die Gnosis darstellt, kann definiert werden als dualistische Religion, die sich aus unterschiedlichen Schulen und Denksystemen zusammensetzt, die zu Welt und Gesellschaft eine betont ablehnende Position einnimmt und eine Befreiung/Erlösung des Menschen aus den Zwängen der irdischen Existenz durch die Gnosis seiner wesenhaften Bindung, als Seele oder Geist, an ein überirdisches Reich der Freiheit verkündet[3].

Die gnostischen Lehren waren bereits in der europäischen Antike so außerordentlich vielgestaltig, dass die Kirchenväter sie mit der vielköpfigen Hydra verglichen. Sie reichten von asketisch-moralischen Systemen, wie dem von Mani gelehrten, bis zu ausschweifend orgiastischen Gruppierungen. Den meisten Gnostikern galt die Welt als die Schöpfung eines dunklen, dämonischen Gegengottes, während der wahre Gott sich außerhalb dieser Welt in einem jenseitigen Lichtreich befand. Der Mensch hatte Anteil an beidem. Sein Körper war ein Teil der Welt des Gegengottes, des Demiurgen, während seine Seele oder sein Geist ein Teil der Lichtwelt war, d.h. der wirkliche Mensch ist göttlicher Natur. Er ist in irgendeiner Form aus dem Lichtreich in die materielle Schattenwelt gefallen und befindet sich dort nun im Exil. Befreiung erlangt er durch die transzendente Erkenntnis, die Gnosis, die in ihm sein wahres Wesen wieder zu Bewusstsein bringt. Dieser Grunddualismus wird auch in einem Wortspiel zum Ausdruck gebracht: "soma-sema" - der Körper ist das Grab der Seele, d.h. seine Bedürfnisse und Begierden bilden Hindernisse für das höhere spirituelle Leben[4].

Der Gnostiker hatte durch seine Erkenntnis Befreiung erlangt und zeigte daher seine Verachtung der Gebote des falschen Gottes, indem er eine Art Gegendasein führte. So war seine Lebensführung entweder geprägt durch die Verweigerung in Form strenger Askese, durch die er der Welt entsagte, oder durch bewusste Ausschweifung, die den absichtlichen Missbrauch der Möglichkeiten der Welt zum Ausdruck brachte[5].

Der antike Gnostizismus, unabhängig, ob man hierbei asketische oder orgiastische Gruppierungen betrachtet, war zu seiner Zeit und in seiner damaligen Umgebung revolutionär. Er bot einen neuartigen Entwurf des Verhältnisses des Menschen zur Welt und zu Gott. Gemeinsam ist allen Gruppierungen die Feststellung eines qualitativen Unterschiedes zwischen Mensch und Welt. Der Mensch ist hierbei in der Welt, aber nicht von der Welt. Die Welt verliert in der Sicht des antiken Gnostikers, sehr zur Empörung seines griechischen Zeitgenossen, ihre göttliche Transparenz und bekommt dämonischen Charakter. Der Mensch ist anders als die Welt und im Kern dasselbe wie Gott. Wegen dieser der Gnosis typischen Ansicht der Konsubstantialität von Mensch und Gott bezeichnen manche Forscher Gnosis gar als eine mythische Projektion der Selbsterfahrung[6].

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2. Mani - ein kurzer biographischer Überblick

Mani lebte von 216-276 n.Chr. Er wurde am 14. April 216 nahe der persischen Residenzstadt Seleukia-Ktesiphon am Tigris geboren[7]. Der Name seiner Geburtsstadt war, nach al-Biruni, Mardinu oder, nach an-Nazim, Huha[8]. Sein Vater Pattak[9] soll aus Ekbatana, dem heutigen Hamadan, gestammt haben[10] und gehörte einer gnostischen Täufersekte an, bei der es sich nach dem Kölner Mani-Kodex um die häretisch-judenchristliche Gemeinde der Elchasaiten (Elkesaiten) handelte, die sich auf den legendären Propheten Elchasai [11]zurückführten, der um 100 n.Chr. in Syrien auftrat. Bereits früh führte Pattak seinen Sohn in diese Sekte ein[12].

Ab seinem zwölften Lebensjahr, um 228/29, bis etwa 240 empfing Mani eine Reihe von Visionen, in denen ihm die Lehre offenbart wurde. Hierbei erschien ihm sein himmlischer Doppelgänger[13] und versicherte Mani seines ständigen Schutzes und Beistandes, worin dieser später auch die Offenbarung des "Trösters"[14] oder Heiligen Geistes wirksam sah, der ihm auf diese Weise die Geheimnisse seiner Lehre offenbart habe[15]. Der Zwilling lehrte ihn das Mysterium der Höhe und der Tiefe, d.h. er beschrieb ihm das lichte Gottesreich in der Höhe und das Reich der Finsternis in der Tiefe, wie sich Licht und Finsternis vermischten, wie der Urmensch in den Kampf zog, göttliche Gesandte die Welt und der Teufel den Menschen erschufen etc[16].

Zunächst befahl der Zwilling Mani, dass er die Lehren geheim halten solle. Im Alter von vierundzwanzig erhielt er dann aber den Auftrag, die wahre Religion zu verkünden. Als Mani seinen Sektenbrüdern seine neue Erkenntnis mitteilte, stießen sie ihn aus ihrer Gemeinschaft aus. Einige waren zwar bereit, auf ihn zu hören, aber die Mehrzahl war der Ansicht, dass unter ihnen einer der falschen Propheten erschienen sei, die nach den Evangelien vor dem Weltende zu den Menschen kommen würden. Es gab einen Tumult und Mani verdankte es dem Einschreiten seines Vaters, dass er nicht erschlagen wurde[17].

Durch den Zwilling ermutigt, begann Mani nun mit seiner Mission, die Lehre zu verbreiten und eine Gemeinschaft zu gründen. Zunächst missionierte er ab 241 erfolgreich in Indien, wahrscheinlich im heutigen Beludschistan. Danach reiste er um 242/243 wieder nach Babylonien, um nach dem Tode Ardashirs I. dem neuen König Shapur I. (242-273) seine Aufwartung zu machen. Von König Shapur erhielt er dann die Erlaubnis, seine Lehre auch im Perserreich zu verbreiten. Es scheint sogar, als sei Mani als Metropolit der babylonischen Christen eingesetzt worden. Er nahm im Gefolge des Königs am Feldzug gegen die Römer Teil und machte weite Missionsreisen. Er bereiste ein Gebiet, das sich heute über sieben verschiedene Staaten ausdehnt: Persien, Pakistan, Afghanistan, Teile der früheren Sowjetunion, Türkei, Irak, Syrien. Andere Missionare gingen in seinem Auftrag ins Römische Reich[18].

Ein wichtiges Merkmal des Manichäismus war die extreme Askese, die zu einer radikalen Absage an alle Dinge dieser Welt führte. Dies schloss natürlich auch Dinge ein, die gemeinhin als nützliche Tätigkeiten gelten, den Ackerbau etwa. Dadurch stieß Mani mit seiner Lehre auch auf sehr schroffe Ablehnung. König Shapur[19] ließ ihn zwar noch gewähren und auch sein Sohn Hormizd duldete Mani, doch dieser starb bald und sein Nachfolger Bahram stand Mani feindselig gegenüber. Seine zoroastrischen Priester, allen voran der Hohepriester Kardir, der eine Reform der zoroastrischen Staatskirche anstrebte, überzeugten ihn, dass die manichäische Religion den Ruin des persischen Staates heraufbeschwören würde. So warf der König Mani vor: "Wozu seid ihr nütze? Ihr seid weder Krieger noch Jäger" und ließ ihn verhaften. Mani starb im Frühjahr 276 nach 26 Tagen im Gefängnis. Sein Leichnam wurde nach der Art, wie man mit Ketzern verfuhr, verstümmelt und vor der Stadt zur Schau gestellt.[20].

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3. Die manichäische Kirche

Mani hatte sehr schnell die meisten Christengemeinden des persischen Reiches mit ihren Bischöfen für sich gewonnen, wobei sicherlich seine Einsetzung als Metropolit eine wichtige Rolle gespielt haben mag, da ihm hierdurch sozusagen im Handstreich die christlichen Gemeinden zugeführt wurden[21].

Mit Duldung des Königs schuf er nun eine streng hierarchisch gegliederte manichäisch-christliche Kirche. Ihr Oberhaupt war Mani selbst. Auf ihn folgten 12 Lehrer[22], die den 12 Jüngern Jesu entsprachen. Jedem dieser Lehrer unterstanden sechs Bischöfe[23] , das ergibt 72, was wiederum den 72 Jüngern des Lukasevangeliums entspricht. Auf jeden Bischof kamen 5, also insgesamt 360 Presbyter. Auf diese Presbyter folgten die Auserwählten[24], die sich zur streng asketischen Lebensführung gemäß der Lehre verpflichtet hatten. Zu guter Letzt gab es schließlich die Gruppe der Hörer[25], die ein frommes Leben führten und die Auserwählten mit Speise, Trank, Kleidung und Unterkunft versorgten[26].

Die Auserwählten übten sich in extremer Askese: Sie lebten in Ehelosigkeit, aßen kein Fleisch und tranken keinen Wein. Allgemein war ihnen das Töten oder Beschädigen von Lebewesen untersagt, d.h. also das Töten von Tieren war verboten, auch das Schneiden von Getreide galt als Töten. Pflücken von Obst wurde als Beschädigung der Bäume angesehen und nach Möglichkeit sollte nicht einmal Gras niedergetreten werden[27].

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4. Das System

Das manichäische System gliedert sich in drei große Abschnitte: Der Anfang beschreibt die antagonistischen Prinzipien Licht und Finsternis, ihre ursprüngliche Getrenntheit. Hier werden die Grundbegriffe der manichäischen Erlebniswelt und ihres Wertesystems definiert. Der große mittlere, nochmals in drei Schritte gegliederte Teil beschreibt den Grund für die Mischung der beiden Prinzipien, die Erschaffung der Welt und die manichäische Kosmologie. Der Schluss erzählt schließlich vom letzten Gericht und dem, was danach kommt.
4.1 Anfang (initium)

Am Anfang waren nach der Lehre Licht und Finsternis getrennt. Auf der Seite des Lichtes befand sich Gott, der Vater der Größe, und um ihn war alles Frieden und Schönheit. Die Natur des Lichtreiches ist Harmonie, Glanz und umfassendes Wissen. Auf der Seite der Finsternis aber war das Böse, die Finsternis und die Materie. Die Herrscher der Finsternis[28] waren alle zersplittert und verfeindet, ausschließlich damit beschäftigt, sich zu bekriegen und von sinnlosen Begierden, Gefräßigkeit und Torheit regiert, d.h. die Finsternis stellt eine zersplitterte Vielheit dar[29].

Bei Gott sind die fünf Tugenden: 1) Vernunft, 2) Gedanke, 3) Klugheit, 4) Erwägung, 5) Überlegung. Beim Fürsten der Finsternis ist das Gegenteil: 1) dunkle Vernunft - Rauch - Hass, 2) dunkler Gedanke - Sturm - Unglaube, 3) dunkle Klugheit - Finsternis - Begierde, 4) dunkle Erwägung - unreines Wasser - Zorn, 5) Dunkle Überlegung - schlechtes Feuer - Dummheit[30].

Der Fürst der Finsternis ist gleichermaßen klug und dumm. Spricht er mit seinen Untergebenen, so erkennt er alle ihre Gedanken und Pläne, sie können nichts vor ihm verbergen. Er kann jedoch nur erkennen, was ihm unmittelbar unter die Augen kommt. Alles Ferne, den Anfang und das Ende erkennt er nicht und er bedenkt nicht, was gestern war oder was die Folgen seines Handelns sind. Er will, dass seine Wünsche augenblicklich erfüllt werden. Er ist von ungeheurer Macht, seine Erscheinung und seine Stimme sind schrecklich[31].

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4.2 Mitte (medium)

Der mittlere Abschnitt des mythischen Dramas beschreibt die Vermischung von Gut und Böse und die Maßnahmen Gottes, diese Vermischung wieder rückgängig zu machen. In diesem Teil wird die Weltgeschichte beschrieben. Er zerfällt seinerseits noch einmal in drei Teile. In der ersten Periode des Weltgeschehens beginnt der Kampf zwischen Licht und Finsternis und die Mischung von Gut und Böse. In der zweiten Periode erfolgt die Erbauung des Kosmos zur Errettung der in der Materie gefangenen Teile des Urmenschen. In der dritten Periode schließlich erfolgt die Destillation des Lichtes aus der Materie.

4.2.1 Schritt 1: Der Urmensch (= die Weltseele)

Der ewige Kampf der Finsternis ist eine ungeordnete und chaotische Bewegung der Materie. Die erste Periode beginnt, als die Finsternis bei ihrem Kampf zufällig in die Nähe des Lichtreiches gerät. Die Herrscher der Finsternis erblicken das Licht, dies erfüllt sie mit Staunen und Gier und sie beenden ihren Krieg und verbünden sich, um das Licht gemeinsam zu rauben[32]. Gott erkennt zwar die Gefahr, doch die Lage ist schwierig, denn das Lichtreich ist nicht in der Lage, Schaden zuzufügen. Somit ist es auch nicht auf einen Verteidigungskrieg vorbereitet. Gott muss daher einen anderen Weg zur Verteidigung finden. Er lässt eine Emanation aus sich hervorgehen, die Mutter des Lebens, und diese gebiert den Urmenschen[33].

Der Urmensch ist nicht identisch mit Adam. Adam wird zu einem späteren Zeitpunkt des Dramas vom Fürsten der Finsternis und seiner Gefährtin in Fleisch und Blut erschaffen. Da Gott frei ist von dem Makel der geschlechtlichen Zeugung, erfolgt die Erschaffung des Urmenschen durch "Rufung", d.h. er hat Gedanken und diese werden Wirklichkeit. Zunächst ruft er die Mutter des Lebens und das Leben ist da. Die Mutter des Lebens wiederum ruft den Urmenschen. Dieser ist keine materielle Erscheinung, sondern bezeichnet die Weltseele, an der alles Leben Anteil hat. In den griechischen Texten wird diese Weltseele als Psyche bezeichnet[34].

Dieser Urmensch nun, die Weltseele, wird von Gott zur Verteidigung des Lichtreiches zum Kampf ausgesandt. Um sich zu wappnen, ruft der Urmensch fünf Söhne, die ihm als Rüstung dienen: 1) Luft-Vernunft-Liebe, 2) Reiner Wind-Gedanke-Glaube, 3) Licht-Klugheit-Vollendung, 4) Reines Wasser-Erwägung-Geduld und 5) Reines Feuer-Überlegung-Weisheit. Diese fünf reinen Elemente stehen entsprechenden fünf unreinen auf der Seite der Finsternis gegenüber[35].

Nach Manis Lehre besitzen die fünf reinen Elemente je einen pneumatischen, also geistigen, und einen psychischen, also seelischen, Aspekt, d.h. jedes Element ist in seinem pneumatischen Aspekt auf die intellektuellen Tugenden und in seinem psychischen Aspekt auf die seelischen Tugenden Gottes bezogen. Beispielhaft drückt dies auch aus, dass die Spielarten der Vernunft und die seelischen Tugenden zum Rüstzeug einer jeden Seele gehören, um das Leben schadlos zu bestehen[36].

Im Krieg des Urmenschen gegen die Mächte der Finsternis siegen und verlieren zunächst beide Seiten gleichermaßen, was jedoch dem Plan Gottes entspricht. Als der Herr der Finsternis den Urmenschen erblickt, erkennt er in ihm ein Lichtwesen. Zwar war sein Ziel die Eroberung des Lichtreiches, aber dieses Licht will er sofort haben. So stürzen sich die Mächte der Finsternis auf den Urmenschen, zerreißen ihn in kleine Stücke und fressen diese dann auf. Diese vermeintliche Niederlage des Lichtes ist aber in Wahrheit sein Triumph, denn die Mächte der Finsternis werden nun von innen mit Licht erfüllt, sind also gleichsam mit Licht kontaminiert und dadurch geschwächt[37].

Wenngleich sich der Urmensch auch wissentlich geopfert hat, wurde dieser Ausgang für die Weltseele dennoch eine Katastrophe. In viele kleine Stückchen zerrissen und von der Finsternis verschlungen, hat der Urmensch seine Vernunft und sein Bewusstsein verloren. Sein Licht vermischt sich mit der Finsternis und seine reinen Elemente mit den unreinen der Söhne der Finsternis[38]. Gut und Böse sind nun vermischt und die Aufgabe des Menschen liegt darin, moralisch wieder zu erwachen und das Gute vom Bösen zu trennen. Überhaupt ist der Begriff des Trennens ein zentrales Konzept des manichäischen Systems, das hier seine mythische Begründung findet. Die Seele muss sich aus der Materie, dem Körper, lösen, um sich mit der Weltseele, von der sie ein kleiner Teil ist, zu vereinigen, wodurch sie dazu beiträgt, dass der Urmensch in seiner Ganzheit und seinem Glanz wieder hergestellt wird.

Im weiteren Verlauf des Mythos wird berichtet, wie ein Teil der über unzählige Körper verteilten Weltseele zu Bewusstsein gelangt und Gott im Gebet um Hilfe anruft. Gott empfindet Mitleid und beschließt, der Weltseele zu helfen. In der nun folgenden zweiten Berufung erschafft er eine Reihe guter Wesenheiten: Er ruft den "Geliebten der Lichter", der ruft den "Großen Baumeister", dieser ruft den "Lebendigen Geist"[39], der seinerseits fünf riesige Söhne ruft. Diese sind 1) Splenditenens, "Halter der Lichter" - Vernunft, 2) Rex honoris, "König der Ehren" - Gedanke, 3) Rex gloriosus, "der ruhmreiche König" - Klugheit, 4) Adamas, "Diamant des Lichts" - Erwägung und 5) Atlas - Überlegung[40].

Der Geliebte der Lichter und der Lebendige Geist steigen nun gemeinsam hinab, finden den verschlungenen Urmenschen und der lebendige Geist ruft ihn. Daraufhin erwacht er und der lebendige Geist befreit die bewusste Weltseele[41], die nun wieder zur Mutter des Lebens und von dort zu Gott aufsteigt. Zwar ist damit der größte Teil der Seele des Urmenschen gerettet, aber ein Teil ist noch in der Materie gefangen, daher beschließt Gott, eine Erlösungsmaschinerie, den Kosmos, zu erschaffen.

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4.2.2 Schritt 2: Kosmogonie (Makrokosmos)

Gott erteilt dem Urmenschen, dem Baumeister, dem Lebendigen Geist und dessen fünf riesigen Söhnen den Befehl, die Finsternis zu bekämpfen und zu unterwerfen. Sie ziehen also zum Kampf aus, töten die meisten Archonten, fangen einen Teil und nur ein paar der Dämonen können entkommen. Die Mächte des Lichtes formen aus ihren Körpern der getöteten Dämonen die Erde und aus ihren Knochen die Berge. Aus ihren abgezogenen Häuten formt die Mutter des Lebens den Himmel. Die gefangenen Archonten werden am Himmelszelt festgenagelt. Da sie Lichtpartikel gefressen hatten, strahlen diese nun als Sterne. Allerdings steht ihr Licht im Dienste der Archonten. Insbesondere gilt dies für die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Durch sie versuchen die Archonten Einfluss auf die Geschicke der Erde im allgemeinen und der Menschen im besonderen zu nehmen[42].

Es ist Gottes Ziel, die Lebenselemente, die Lichtkraft also, aus den Dämonen herauszuziehen. Alles, woraus Leben entsteht - Samen, Eier, Regen und Licht -, besteht nach Mani aus der gleichen Substanz. So sind also die Lebenselemente im Samen der Archonten besonders hoch dosiert. Sexualität kommt nach manichäischem Verständnis vom Teufel - und sie bildet in diesem Teil der Erzählung die Schwäche der Dämonen. Um nun den Archonten den Samen zu entziehen, erscheint der "Lebendige Geist" vor den am Himmel festgenagelten Dämonen als wunderschöne nackte Frau. Darüber geraten die Archonten in heftige Erregung und verspritzen ihr Sperma. Dieses wird gesammelt, zur Lichtsubstanz geläutert und dann vom Lebendigen Geist zu den Himmelsschiffen Sonne und Mond geformt[43].

Als die Schiffe fertig sind, ist noch ein wenig Lichtsubstanz übrig. Diese formt der Baumeister zu den drei großen Rädern: Dem Rad des Feuers, dem des Wasser und dem des Windes. Auf dem Rad des Feuers fährt die Sonne, auf dem Rad des Wassers der Mond und das Rad des Windes ist der Zodiak[44]. Die Achsen der Räder sind nach manichäischer Vorstellung zwar vorhanden, doch bestehen sie aus Lichtpartikeln, so dass sie dem menschlichen Auge unsichtbar sind. Die Achse, um die sich der Zodiak dreht wird als "Säule der Lobpreisung" bezeichnet. Sie ist hohl und es steigen die Gebete, Hymnen und reinen Seelen der Manichäer durch sie zu Gott empor. Alle drei Räder verfügen über derartige Achsen und alle drei Achsen bilden mit ihren Rädern riesige Kreuze, die am Himmel stehen. Am Rad des Windes befinden sich die Zodiakalzeichen und an diesen wiederum ist jeweils ein Schöpfkorb angebracht. Nach der Erschaffung des Kosmos setzt der Lebendige Geist seine Fünf Söhne als Wachhabende über die kosmische Ordnung ein.

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4.2.3 Schritt 3: Die Destillation des Lichtes aus der Materie

Die Mutter des Lebens, der Urmensch und der Lebendige Geist treten nun vor Gott und bitten ihn, das große kosmische Räderwerk in Gang zu setzen und die in der Welt verbliebenen Teile der Seele des Urmenschen herauszudestillieren. Daraufhin beruft Gott aus Erbarmen mit der Seele den Dritten Gesandten[45]. Dieser steigt zu den Schiffen der Sonne und des Mondes hinab und befiehlt, die drei Räder in Gang zu setzen. Der "König der Ehren" beginnt nun das Himmelsgewölbe zu drehen und die Destillation beginnt: Die Schöpfkörbe des Zodiak schöpfen die Lebenssubstanz - Licht, Regen, Samen, Gebete, Hymnen und die Seelen der Frommen nach ihrem Tod - und heben sie am Himmelsgewölbe empor bis hin zum Mondschiff. Dort kippen die Körbe und gießen ihren Inhalt vierzehn Tage lang in das Mondschiff. Im Mond wird die Lebenssubstanz nochmals gereinigt. Dabei sammelt sich alles, was nicht ganz sauber ist, im Bauch des Schiffes, wo sich schließlich ein Ventil öffnet, so dass die unsauberen Teile wieder auf die Erde zurückregnen. Das reine Licht aber wird zur Sonne weitergeleitet. So kann also ein Manichäer im Zu- und Abnehmen des Mondes beobachten, wie Gott die menschlichen Seelen aus der Verstrickung des Fleisches befreit und zur Seligkeit führt[46]. Von der Sonne aus gelangt die Lichtsubstanz dann an einen jenseitigen Ort, wo der Große Baumeister eine neue Lichtwelt erschafft, in der am Ende der Zeit alles Licht versammelt und in alle Ewigkeit vor einem Zugriff durch das Böse bewahrt wird.

Ähnlich wie der Makrokosmos ist auch der Mikrokosmos, der menschliche Körper, ein Apparat zur Destillation des Lichtes. Wenn ein Mensch isst, dann wird in seinem Körper das Licht von dem unbrauchbaren Rest, der dann später wieder ausgeschieden wird, getrennt. Die wertvolle Lichtsubstanz kreist dann weiterhin im Inneren und nährt gleichermaßen die gefangene Seele und den Körper. Der feinste Teil der Nahrung wird vom Kopf des Manichäers in Gebete und Hymnen verwandelt und steigt dann in dieser Form zum Himmel empor[47]. Aus diesem Grunde wurden beim vegetarischen Mahl der Manichäer Gebete und Hymnen gesprochen. Indem die Electi so ihre Nahrung zu sich nahmen, hatten sie unmittelbaren Anteil am Heilsgeschehen. Sie trennten das Gute vom Bösen und ließen es in gereinigter Form durch die Säule des Lobpreises zum jenseitigen Lichtreich aufsteigen[48].

Mit Beginn der Drehung erfasst die an den Himmel gehefteten weiblichen Dämonen, die schwanger sind, ein Schwindel und sie erleiden Fehlgeburten, die auf die Erde fallen. Aus ihnen werden später nacheinander die Pflanzen, die Tiere und der Mensch[49].

So drückt also der Kosmos einen ersten Sieg des Lichtes aus, doch das Böse ist damit noch lange nicht vernichtet. In den Dämonen ist ein Anteil des göttlichen Lichtes enthalten und dieses muss ihnen weiterhin entzogen werden. Zu diesem Zweck wendet der Dritte Gesandte die gleiche Taktik an wie der Lebendige Geist vor ihm: Er und seine Gefährten nehmen in den Himmelsschiffen Platz und erscheinen den Dämonen in leuchtender Schönheit, den Archonten weiblich, den Archontinnen männlich. Beim Anblick der Lichtfrauen verspritzen die Archonten ihr Sperma, das zum Mond gebracht und dort geläutert wird. Die Archontinnen aber verlieren, indem der Mond mit seinen schönen Gestalten um die Erde kreist, ihre Eier: die Menstruation entsteht[50].

Die unreinen Teile des Spermas, die aber immer noch einen Teil des Lichtes enthalten, fallen als Regen auf die Erde zurück, woraus die Pflanzen entstehen. Die Menstruation fällt direkt auf die Erde und daraus entstehen die Tiere. Da diese weniger Lichtkraft haben, als die Pflanzen, beginnen sie die Pflanzen zu fressen. Hier beginnt das ewige fressen und gefressen werden.

Jedes Mal, wenn die Dämonen die Himmelsschiffe mit ihren Lichtgestalten sehen, erfasst sie von neuem die Gier, das Licht zu besitzen. So beraten sie sich, was zu tun sei. Ihr Anführer ist Saclas[51] oder Ašaklun und seine Gattin heißt Nebrod oder Nebroël. Saclas verspricht ihnen, dass er eine Lichtgestalt wie die aus den Schiffen für sie erschafft, wenn sie seinen Anweisungen folgen. So lassen Nebrod und er sich die Kinder der Archonten bringen und sie fressen sie auf. Auf diese Weise kommt das Fleischfressen in die Welt. Nachdem sie sich satt gefressen haben, werden sie lüstern und begatten sich - so kommt der Geschlechtsverkehr in die Welt. Nebrod wird daraufhin schwanger und gebiert Adam. Da Saclas und Nebrod mit dem Fleischfressen fortfahren, gebiert sie wenig später auch noch Eva[52].

Alle Pflanzen, Tiere und Menschen sind nach manichäischer Sicht Geschöpfe des Teufels, aber der Mensch stellt das Meisterstück der Archonten dar, denn in ihm sind mehr Anteile des Lichtes enthalten, als in den anderen Geschöpfen. In den Augen der Dämonen erscheint er daher als Ebenbild der himmlischen Lichtgestalten. Für Saclas ist es wichtig, dass sein Mensch im Kampf zwischen Licht und Finsternis auf seiner, des Teufels Seite steht, daher hat er ihn aus Knochen, Sehnen, Adern, Fleisch und Haut geschaffen. In diesen fünf Körperteilen sind die fünf guten Verstandeskräfte eingesperrt und eingeschläfert. Als Wächter sind ihnen die entsprechenden fünf bösen Eigenschaften beigesellt, die dafür Sorge tragen müssen, dass die Gefangenen nicht aus ihrem Schlaf erwachen[53].

Der Körper des Menschen wird also von den Regungen des Teufels regiert, die die göttlichen Anteile versklaven und sie ihren Ursprung vergessen lassen. In den Knochen ist die Vernunft gefangen, mit dem Hass als Wächter. In den Sehnen schläft der Gedanke und wird vom Unglauben bewacht. Im Fleisch liegt die Erwägung in tiefer Bewusstlosigkeit und bei ihr ist der Zorn. In der Haut schließlich ist die Überlegung eingekerkert und die Dummheit ist ihre Wächterin[54].

Gott sieht all dies, empfindet Mitleid und entsendet Jesus, den Erlöser, in Gestalt der Schlange zu Adam. Als Adam nun vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse isst, den ihm der Teufel wohlweislich verboten hat, erlangt er Gnosis, die Erkenntnis, und die göttlichen Verstandeskräfte überwältigen die teuflischen Regungen[55].

Dieser ersten befreienden Offenbarung Gottes an den Menschen, folgen später weitere. Adams Sohn Seth empfängt eine, dann Enosch, Sem und Henoch. Es folgen die Propheten als Gesandte Gottes: Zarathustra in Persien, Buddha in Indien und Jesus von Nazareth in Palästina. In Manis Lehre schließlich sind all diese Offenbarungen zusammengefasst und bilden so die richtige Religion für alle Menschen aller Zeiten[56].

Mit dem Auftreten Manis und der Schaffung der manichäischen Kirche hat sich die Situation des Menschen vor der Endzeit grundlegend geändert, denn erstmals seit der Erbauung der Weltmaschine gibt es nun eine Institution, die den Menschen auf den rechten Pfad führt. Es ist eine Institution zur Erweckung und Einsammlung der Vernunft der Weltseele. Je nach Stellung zur Kirche zerfällt die Menschheit nun in drei Gruppen[57]:
Die manichäischen Electi, die streng nach den Regeln leben, also sich streng vegetarisch ernähren, sexuell enthaltsam sind und den Menschen die Gnosis predigen - sie gelangen nach ihrem Tod direkt in das Lichtreich;
die Auditores, die zwar nicht nach den Regeln leben, aber die Electi mit Nahrung und Kleidung unterstützen, wodurch sie ebenfalls in geringerem Maße am Erlösungswerk teilnehmen;
die Nicht-Manichäer, die den Ruf der manichäischen Prediger nicht hören und der Kirche ablehnend entgegen treten.

Stirbt ein Mensch, so passiert folgendes: Der Tote gelangt auf seinem Weg ins Jenseits zum Thron des Gerechten Richters, wo sich der Weg dann in drei Richtungen gabelt. Die Electi gehen auf den Weg zum Leben, d.h. direkt ins Lichtreich[58]; die Auditores erwartet der Weg der Vermischung und die Verächter der wahren Religion erwartet der Weg des Todes. Den Verstorbenen erwartet hier ein Ebenbild seiner selbst, wie er zu Lebzeiten war. Den Electus erwartet eine wunderschöne Lichtjungfrau, den Nicht-Manichäer ein hässliches Ungeheuer. Tritt ein Electus vor den Thron, so erwarten ihn Engel mit Siegespreisen, die die Teufel verjagen und den Gerechten auf den Weg des Lebens führen. Der Nicht-Manichäer aber wird von den Teufeln gepackt und in die Verdammnis geschleppt. Erscheint ein Auditor vor dem Thron des Richters, so wollen die Teufel ihn packen, da er ja die religiösen Gebote nicht vollständig eingehalten hat, aber die Seelen der Electi treten vermittelnd dazwischen. Da der Auditor durch das Spenden von Kleidung und Nahrung viele gute Verdienste angesammelt hat, wird er vor der Verdammnis bewahrt und auf den Weg der Vermischung geführt, um in der folgenden neuen Existenz vielleicht selber als Electus oder als Speise eines solchen zur Befreiung zu gelangen[59].

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4.3 Ende (finis)

Der Prozess der großen Destillation dauert so lange an, bis alle Seelenteile des Urmenschen, die gerettet werden können, eingesammelt sind. Ist dies erreicht, so wird der Urmensch als großes Menschenbild wieder zusammengesetzt. Der Kosmos hat damit seinen Zweck erfüllt und das Weltende tritt ein.

Zunächst werden beim jüngsten Gericht die "Schafe von den Böcken" getrennt. Die Posaune des letzten Gerichtes ertönt und alle Menschen werden vor den Weltrichter gebracht. Dieser dankt den Guten, weil sie ihn, als er in der Gestalt eines Bettlers zu ihnen kam, mit Speise und Trank versorgt haben. Die Bösen verurteilt er zum ewigen Feuer, weil sie ihm nichts gaben. Die Auditores also finden Gnade vor dem Weltenrichter, die Nicht-Manichäer aber kommen in die Verdammnis[60].

Da der Kosmos nun nicht mehr benötigt wird, verlassen die fünf Riesen, die auf Geheiß des Lebendigen Geistes Wache hielten, ihren Platz und gehen zu den anderen ins Lichtreich. Der Kosmos, der nun nicht länger von Atlas getragen wird, stürzt in sich zusammen und geht in Flammen auf. Dieses Höllenfeuer lodert 1468 Jahre, verbrennt alles, was auf der Welt zurückgeblieben ist und schmilzt es zu einem riesigen Klumpen, dem Bolos oder Globus horribilis, ein. Reste der einst zerteilten Urseele, die nicht gerettet werden konnten, bleiben in diesem Klumpen aus konzentriertem Bösen und sind für immer verdammt[61]. Der Globus horribilis wird nun noch mit einem riesigen Stein beschwert und Wächter achten darauf, dass im nichts Böses mehr entweichen kann. Licht und Finsternis sind nun wieder wie am Anfang getrennt und das Böse ist für immer besiegt[62].

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Quellen

Adam, Alfred (Hrsg.)
1969 Texte zum Manichäismus.

Andresen, C./Gigon, O./Hornung, E./ Rüegg, W. (Hrsg.)
1980 Die Gnosis. Dritter Band: Der Manichäismus. Zürich-München

Bryder, Peter (Hrsg.)
1988 Manichaean Studies. Lund

Klíma, Otakar
1962 Manis Zeit und Leben. Prag

Merkelbach, Reinhold
1986 Mani und sein Religionssystem. Opladen

Ort, L.J.R.
1967 Mani: A religio-historical Description of his Personality. Leiden

Rudolph, Kurt
1980 Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer antiken Religion. Leipzig

Sloterdijk, P./ Macho, T.H.
1993 Weltrevolution der Seele. Zürich

Stoyanov, Yuri
1994 The Hidden Tradition in Europe. London

Walker, Benjamin
1992 Gnosis: Vom Wissen göttlicher Geheimnisse. München

[1] Walker 1992: 228

[2] Walker 1992: 229

[3] Walker 1992: 11; Rudolph 1980: 7

[4] Walker 1992: 18

[5] Walker 1992: 143

[6] Quispel, Gilles: Das gnostische Weltgefühl. In: Sloterdijk/Macho 1993: 242-245

[7] Rudolph 1980: 354

[8] Klíma 1962: 217

[9] gr. Pattikos, lat. Patecius

[10] Andresen et al.: 21

[11] oder auch Elkesai, Elxai, dh.h. "verborgene [Gottes-]Kraft"

[12] Rudolph 1980: 355; Andresen et al.1980: 22-23

[13] der "Zwilling", "Paargenosse", "Gefährte"

[14] des Parakleten

[15] Rudolph 1980: 355; Klíma 1962: 237-238

[16] Merkelbach 1986: 14; Rudolph 1980: 355

[17] Merkelbach 1986: 15

[18] Rudolph 1980: 355-356; Merkelbach 1986: 7-8; Klíma 1962: 252-254

[19] 241 - 272 n. Chr.

[20] Rudolph 19980: 356; Merkelbach1986: 8-9

[21] Merkelbach 1986: 7

[22] magistri

[23] episcopi

[24] electi

[25] auditores, Katechumenoi

[26] Merkelbach 1986: 8 Andresen et al. 1980: 142

[27] Andresen et al.1980: 40-41; Merkelbach 1986: 8; Adam 1969: 37

[28] gr. Archonten

[29] Adam 1969: 13; Merkelbach 1986: 18; Andresen et al. 1980: 30, 103

[30] Adam 1969: 16; Merkelbach 1986: 18

[31] Merkelbach 1986: 18

[32] Adam 1969: 13-14

[33] Adam 1969: 14, 16; Andresen et al. 1980: 30; Merkelbach 1986: 19

[34] Merkelbach 1986: 19

[35] Adam 1969: 17; Andresen et al.1980: 30; Merkelbach 1986: 19

[36] Merkelbach 1986: 20

[37] Adam 1969: 14, 17; Andresen et al. 1980: 30-31; Merkelbach 1986: 20

[38] Andresen et al. 1980: 30-31

[39] bei Augustinus der spiritus potens

[40] Adam 1969: 17-18

[41] Adam 1969: 18

[42] Adam 1969: 19; Merkelbach 1986: 22

[43] Adam 1969: 19; Merkelbach 1986: 23

[44] Merkelbach 1986: 23; Adam 1969: 19

[45] tertius legatus

[46] Adam 1969: 15, 41

[47] Adam 1969: 38

[48] Merkelbach 1986: 25-26

[49] Andresen et al.: 107; Adam 1969: 20-21; Merkelbach 1986: 26-27

[50] Adam 1969: 20-21

[51] aram. "der Tor"; Merkelbach 1986: 27

[52] Adam 1969: 21-22, 81; Merkelbach 1986: 27

[53] Andresen et al. 1980: 182; Merkelbach 1986: 28-29

[54] Merkelbach 1986: 28

[55] Andresen et al. 1980: 141; Adam 1969: 22-23

[56] Adam 1969: 5-6; Ort 1967: 117-127

[57] Merkelbach 1986: 30

[58] Andresen et al. 1980: 257

[59] Adam 1969: 8; Merkelbach 1986: 31; Andresen et al. 1980: 140

[60] Merkelbach 1986: 32

[61] Andresen et al. 1980: 35, 120-121; Adam 1969: 81; Merkelbach 1986: 32-33

[62] Merkelbach 1986: 33

Dienstag, 8. September 2009

Buddhistisches Tantra - der Pfad der Transformation

© Oliver Ohanecian


Seit undenklichen Zeiten
Verleihen die Wurzeln des Baumes der Un-Kenntnis,
Wohl gewässert vom Monsun der Gewohnheiten,
Wachstum den Zweigen des Truges.
Heute habe ich den Baum der Un-Kenntnis gefällt,
Meine Axt war die Unterweisung des Lehrers:
Höre, denke darüber nach und übe dich darin!

So singt der Mahasiddha Caurangipa und beschreibt damit sowohl den gewöhnlichen Zustand des Menschen aus tantrischer Sicht, wie auch den Ausweg aus diesem Dilemma. Anders ausgedrückt: Mit seinen eingefahrenen Denk- und Handlungsgewohnheiten erschafft sich der Mensch ein nahezu undurchdringliches Dickicht wahnhafter Vorstellungen über sich und die Welt, in dem er gefangen ist. Es gibt jedoch ein Entrinnen aus den selbsttrügerischen Begrenzungen, hin zum eigentlichen Wesen der Welt.

Der genannte Sanskrit-Terminus "Mahasiddha" bedeutet "großer Adept" und bezeichnet die "großen Verwirklicher" der tantrischen Lehren. Ein solcher Adept ist ein Individuum, das durch das sogenannte Sadhana, d.h. eine spirituelle und psychische Disziplin, Siddhis verwirklicht hat, das bedeutet psychische und spirituelle Kräfte. Die Mahasiddhas des alten Indien hatten mit den Konventionen des klösterlichen Lebens ihrer Zeit gebrochen. Sie ließen die Klöster hinter sich und praktizierten in Höhlen und Wäldern, auf Leichenverbrennungsplätzen und in den nordindischen Dörfern. Dargelegt werden die von den Mahasiddhas praktizierten Methoden in einer buddhistischen Schriftengattung, den sogenannten Tantras.


Traditionen, Sichtweisen und Methoden

Zwischen dem 3. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung kam es innerhalb des Buddhismus zur Entwicklung eines neuen Lehrzweiges, der sich schließlich als lebendige und ungebrochene magisch-mystische Tradition in den vergangenen Jahrzehnten unter Bezeichnungen wie Vajrayana, "Diamantenfahrzeug", Tantrayana, "Tantrafahrzeug" oder auch als Guhyamantra, das "Geheime Mantra" über die ganze Welt verbreitet hat. Philosophisch basiert dieses System auf den in den Mahayana-Sutras dargelegten und in den philosophischen Schulen des Madhyamaka und Cittamatra systematisierten Einsichten, doch hinsichtlich ihrer Meditations- und Praxismethoden unterscheidet es sich radikal von den Methoden anderer Lehrzweige.

Das Klischee zeigt den Buddhismus als weltverneinende Mönchsreligion, in der alle starken Emotionen aufgelöst oder verdrängt werden. Dieses Klischee geht - wie dies wohl im Wesen des Klischees liegt - an der Wirklichkeit des Buddhismus vorbei. Grundsätzlich werden im Buddhismus drei Yanas, d.h. Fahrzeuge, und drei Ebenen der Praxis und damit verbundene Sichtweisen unterschieden: Hinayana, Mahayana und Vajrayana, sowie die Praxisebenen Sutra (im Hinayana und Mahayana), Tantra und Dzogchen oder Mahamudra. Was sie alle vereint ist das Streben nach der Buddhaschaft. Was genau dies jedoch sei und wie man es erreichen könne, darin unterscheiden sie sich - zumindest bei oberflächlicher Betrachtung - scheinbar sehr. "Buddha" bedeutet wörtlich "der Erwachte". Dieses Erwachen ist eine vollkommene Einsicht in das wahre Wesen aller Erscheinungen, also ein Prozess, der sich im Bewusstsein vollzieht. Die Methoden beziehen sich daher darauf, die Achtsamkeit auf bestimmte Aspekte des erlebten Seins und des beobachtenden Bewusstseins selbst zu richten, um so dieses Erwachen einzuleiten.

Hinayana bedeutet "Kleines Fahrzeug" und ist heute vor allem vertreten durch den Theravada-Buddhismus (dessen Anhänger den Ausdruck "Hinayana" allerdings gar nicht mögen). Sein Ziel ist die persönliche Befreiung des Praktizierenden aus dem Daseinskreislauf. Die Welt wird hier als leidhaft erfahren, der Grund dafür ist Karma und der verblendete, also der nichterkennende Geist. Die Methode ist Entsagung der leidhaften Welt und Kontrolle des eigenen Verhaltens, so dass für andere keine Probleme verursacht werden, d.h. im Idealfall Rückzug aus der Welt in die klösterliche Gemeinschaft und strenge Observanz des Vinaya, d.h. hunderter Regeln und Gelübte, die das monastische Leben strukturieren. Die Gelübte gelten für das gegenwärtige Leben und enden mit dem Tod. Die endgültige Befreiung liegt im Nirvana, d.h. im Erlöschen aller persönlichen Daseinsimpulse. Dargelegt sind die Lehren des Hinayana in den Sutras des so genannten Pali-Kanons.

Im Mahayana kommt dem Prinzip der Motivation eine besondere Bedeutung bei. Regeln gelten zwar als nützlich, um negative Ursachen zu beenden, aber um wirklich gute Wirkungen zu erzielen, muss die zugrunde liegende Absicht gut sein. Außerdem tritt im Mahayana an die Stelle der persönlichen Befreiung das Bodhisattva-Ideal. Der Gedanke der persönlichen Befreiung gilt hier als Ausdruck einer weiterhin bestehenden Anhaftung an die Vorstellung eines unabhängig existierenden Selbst. Der Bodhisattva hingegen entwickelt seine geistigen Fähigkeiten, um gleichermaßen für alle Wesen von Nutzen zu sein, und verzichtet aus dem gleichen Grund auf die finale Befreiung im Nirvana, dem Erlöschen. Er bleibt also in der Welt, sei es in manifester oder auch in subtiler Form, um anderen, die nicht seine Einsicht und seine Fähigkeiten besitzen, helfen zu können, so zu werden, wie er selbst, d.h. das ihnen innewohnende Potenzial zu entfalten.

So zu werden wie er selbst? An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem Geschlecht auf. Bodhisattvas müssen nicht notgedrungen männlich sein. Prominentes Beispiel für einen weiblichen Bodhisattva und Buddha ist die berühmte Göttin Tara. In ihrem Mythos wird berichtet, dass sie das Gelübte abgelegt habe, in weiblicher Erscheinung zum Wohle aller empfinden Wesen zu wirken --- womit sie sich von Aussagen des alten Buddhismus distanziert, denen zufolge Erleuchtung nicht von Frauen zu erlangen sei. Beschritten wird der Bodhisattva-Pfad mit dem Bodhisattvagelübte. Dieses Gelübte gilt bis zur Erlangung des Zustandes der Buddhaschaft, also weit über das gegenwärtige Leben hinaus.

Die Hauptprinzipien des Mahayana sind die Schulung von Intelligenz und Disziplin und die Kultivierung von Bodhicitta, d.h. die Überprüfung der Motivation bei allem, was getan wird. Die wichtigste Textgattung des Mahayana sind die Sutras, in denen die philosophischen Einsichten und kontemplativen Methoden dargelegt werden. Zu großer Berühmtheit sind vor allem die Prajnaparamita-Sutras gelangt, d.h. die Sutras der Transzendenten Weisheit. Die in den Sutras präsentierte Praxisebene umfasst Entsagung, Entwicklung der tieferen Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit und Anwendung des Bodhisattva-Ideals.

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Grundprinzipien des Tantra

Vajrayana, das "diamantene Fahrzeug", bezeichnet den Weg der tantrischen Lehren des Buddhismus. Der Begriff "Tantra" ist allerdings heutzutage nicht ganz unproblematisch. Leider wird er meist mit spirituell verbrämtem sexuellem Hedonismus, den sich vorwiegend westliche Autoren zurecht fantasieren, gleich gesetzt. Es wäre nur wünschenswert, dass sich eines Tages vielleicht doch herumspricht, dass Tantra, wie es vom heutigen Esoterikmarkt hervorgebracht wird, im Großen und Ganzen nicht mehr ist, als eine groteske Verzerrung durch zynische Geschäftemacher, die meilenweit an der Sache vorbeigeht und lediglich Verwirrung stiftet. Die albernen Sexualratgeber, die in jeder kleinen Esoterikbuchhandlung die Regale füllen, haben in etwa so viel mit Tantra zu tun, wie Frolic mit Haute Cuisine.

Der Sanskrit-Terminus "Tantra" bedeutet wörtlich "Faden" oder "Gewebe" im Sinne von Kontinuität. Tantra arbeitet mit Energie. Es werden hier drei nicht voneinander getrennte (!) Ebenen der Existenz unterschieden: Der Körper, die Stimme und der Geist. Sutra ist vor allem mit der Ebene des Körpers verbunden. Tantra hingegen bezieht sich vorwiegend auf die Dimension der Stimme, die mit dem Atem und darüber mit dem Prana, der subtilen Energie, verbunden ist. Außerdem repräsentiert die Stimme aber natürlich auch Klang, der seinerseits verknüpft ist mit Mantra und dieses wiederum mit Silben. Die verschiedenen Silben symbolisieren verschiedene Formen von Energie. So bilden die Silben eines Mantras das spezifische Muster der damit verbundenen tantrischen Gottheit. Das Mantra ist diese Gottheit in Form von Klang und die Gottheit ist ein energetischer Aspekt der Wirklichkeit im tiefsten, innersten Sinne.

Im Buddhismus werden verschiedene Formen von Tantra hinsichtlich der in ihnen gelehrten Methoden unterschieden. Die gebräuchlichste Unterteilung ist die in niederes und höheres Tantra. Grundsätzlich gilt für alle Tantras, dass ihnen die Energie und alles, was die menschliche Existenz ausmacht, als Wert erscheint. Niederes oder auch äußeres Tantra ist der Weg der Reinigung von verzerrenden und trennenden Konzepten und Geistesfunktionen. Hierbei werden die Adepten durch verschiedene Observanzen, z.B. Beachtung besonderer Reinheits- und Speisegebote, und Rituale darauf vorbereitet, die Weisheit der jeweiligen Gottheiten - am bekanntesten sind Tara und Avalokiteshvara - aufzunehmen, d.h. in sich zu verwirklichen. Der eigentliche Weg der Transformation ist das höhere Tantra, Anuttaratantra lautet der Sanskrit-Terminus. Hier werden die Leidenschaften in Weisheit transformiert, ein Prozess, in dem alle konzeptuellen Begrenzungen durchbrochen werden.

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Dualismus und Nicht-Duale Sicht

Was sind das für Begrenzungen? Das gewöhnliche Denken ist geprägt durch dualistische Annahmen. Im westlichen Denken etwa wird der Körper-Geist Dualismus mit seiner negativen Bewertung des Körpers bis in unsere Gegenwart mehr oder weniger als selbstverständlich hingenommen. Versuche unterschiedlicher neuer esoterischer Gruppierungen zur Aufhebung dieses Dualismus verlieren sich meist in der für postmoderne Esoterik so typischen Oberflächlichkeit, die einfach nur Begriffe ändert, ansonsten aber alles beim alt Gewohnten belässt. In Folge des dualistischen Denkens - das in der europäischen Denktradition, um dies nur einmal ganz beiläufig zu erwähnen, vorchristlich ist und seine Ursprünge in der griechischen Philosophie hat - fand eine Entwertung des Körpers statt. "Der Körper ist ein Grab" (soma sema) sagt Plato im Gorgias und entlehnt selber diesen Ausdruck von Philolaos. Als eine Art Bindeglied steht zwischen Körper und Geist die Seele als Repräsentantin des Selbst. Da die Seele nicht nur dem Bereich des Geistes angehört, sondern auch materielle Gedanken, Impulse und Begierden enthält, muss sie gereinigt werden. So wird bei Plato nicht nur der Körper herabgesetzt, sondern auch die Seele. Über beidem steht der Geist als völlig unstoffliche Kraft. Das Ergebnis ist eine Geistigkeit, die voller Feindseligkeit und Verachtung auf die Welt und ihre Bindungen blickt.

Aus dieser Sicht entstanden zwei verschiedene Schlussfolgerungen, die sich in zwei gegensätzlichen Lebensstilen ausdrücken: In der Askese und in der Ausschweifung. Die Askese entsteht und erhält sich auf streng dualistischer Basis durch Angst. Sie steht auf der Annahme, dass das, was als das "Beste" im Menschen angenommen wird, verunreinigt werden könnte, bzw. dass bereits bestehende Verunreinigungen entfernt werden müssen. Auf diese Weise sollen die Seele und der Geist befreit werden, auch unter Qualen. Das Gegenteil hierzu, die Ausschweifung, beruht auf der Verachtung. Äußerste Verachtung für den Körper und die Welt leugnet Materie sogar als Gefahr. Körper und Materie erscheinen hierbei als so schlecht, dass man sich einfach darüber erhebt und willkürlich und rücksichtslos mit ihnen umgeht. Ausschweifung empört sich gerne gegen Askese, doch beide haben die gleiche Wurzel. Das eine ist die Verneinung des Körpers durch Nichtachtung und Enthaltsamkeit, das andere der Missbrauch des Körpers durch Zügellosigkeit und Überbeanspruchung.

Anders im Tantra. Hier durchdringen, umschließen und bedingen sich Körper und Geist gegenseitig - sie bilden kein Gegensatzpaar. Der Körper ist hier nicht ein Ding, das der Mensch hat und als Objekt von Spekulationen betrachten kann, sondern der Mensch ist Körper. Dies könnte nun natürlich auf der Basis des Körper-Geist Dualismus gründlich materialistisch missverstanden werden. Nach tantrischer Ansicht sind jedoch Lebenswelt und Körper weder ganz subjektiv (geistig), noch ganz objektiv (körperlich), sondern beides. Der Körper, der wir sind, ist eine Gesamtheit aus Wirksamkeiten, die nicht getrennt sind von der sie umgebenden Welt. Es gehen gleichermaßen Handlungen von diesem Körper aus, wie auch die wahrgenommenen Dinge zu diesem Zentrum hin orientiert sind. Die Gesamtheit der Wirksamkeiten umfasst fünf psychophysische Bestandteile, fünf elementare Kräfte und fünf Sinnesobjekte. Die psychophysischen Bestandteile sind Farbe-Form als erkenntnistheoretisches Objekt in wahrnehmbaren Situationen, außerdem Gefühlsurteil-Empfindung, Unterscheidungsfähigkeit-Begriffsbildung, diskursives Denken und abstrakte Wahrnehmung. Die fünf Elemente sind Erde (Festigkeit), Wasser (Kohäsion und Fliessen), Feuer (Temperatur und Licht), Luft (Beweglichkeit und Schnelligkeit) und Raum (umfassende Weite). Die fünf Sinnesobjekte sind Farbe, Klang, Geruch, Geschmack und Struktur. Die Lebenswelten entstehen durch die Begegnung der Sinne mit ihren jeweiligen Sinnesobjekten. Erhalten werden sie als individuelle Lebenswelten durch wertende Unterscheidung, subjektive Standpunke, latente Neigungen, Wünsche und Emotionen, die aus diesen Faktoren resultieren und ihrerseits wiederum verstärkend auf sie einwirken.

Hier nun erblicken wir den von Caurangipa beschriebenen "Baum der Un-Kenntnis", der vom "Monsun der Gewohnheiten" gewässert wird. Die eigentliche Un-Kenntnis besteht in diesem Zusammenhang in der dualistischen Idee, das System der Wirksamkeiten bilde in seinem Zusammenspiel eine selbstexistente Größe, die unabhängig einer Welt gegenübersteht, die ihrerseits in eine Vielzahl derartiger Entitäten zersplittert zu sein scheint. Diese Vorstellung äußert sich in dem Denksystem "Ich und die anderen" mit all seinen emotionalen Verflechtungen, den "Zweigen des Truges". Die "Wurzeln des Baumes der Un-Kenntnis" bilden der Geist selber und die dort allein liegenden dualistischen "Geistesgifte", d.h. die "drei Wurzelgifte" und die "fünf Leidenschaften". Die "Wurzelgifte" sind Gier nach systemimmanent als angenehm definierten Ereignissen, Ablehnung gegenüber Ereignissen, die als unangenehm definiert sind, und schließlich Ignoranz gegenüber der grundsätzlich ungeteilten Wirklichkeit. Die mit den psycho-physischen Bestandteilen verbundenen "fünf Leidenschaften" sind: Lust oder Gier, Hass, Trägheit, Hochmut und Eifersucht.

Begriffe wie "Un-Kenntnis" oder auch "Illusion", "Trug" etc. bezeichnen also einen Zustand, in dem sich das Individuum durch eine Welt aus Vorstellungen und Theorien bewegt und diese für eine Wirklichkeit im absoluten Sinne hält, statt "Welt" als synergetisches Gesamtsystem zu begreifen, zu leben und zu achten.

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Diskursiver Geist und Geist-an-sich

Der Begriff "Geist" wird in diesem Zusammenhang in zwei Aspekte unterteilt: Diskursiver Geist oder auch "Geist in Bewegung" und "Geist an sich". Andere Bezeichnungen für "Geist an sich" sind "Natur des Geistes" oder auch "klares Licht". Der Geist, der als Ort der "Geistesgifte" genannt wird, ist der "Geist in Bewegung", d.h. der Bereich des diskursiven Denkens und der damit verbundenen ichbezogenen Wahrnehmung. Dies ist die gedankliche Tätigkeit, mit der die wahrgenommenen Erscheinungen gegenübergestellt, verglichen, gebilligt, verworfen und klassifiziert werden. Mit diesen Mitteln wird eine virtuelle Welt der Grenzziehungen errichtet. Unentwegt werden hierbei Grenzen zwischen Individuen, zwischen diesen und jenen Religionen oder sonstigen Weltanschauungen, diesem und jenem Volk etc. gezogen. Innerhalb dieser Begrenzungen wird dann von den Individuen die Festlegung eines Standpunktes eingefordert oder vom wahrnehmenden Individuum Zuordnungen vorgenommen. Eine besondere Spielart dieses Prinzips zeigt sich in der postmodernen Esoterik. Dort verliert sich der begriffliche und konzeptuelle Konsens im "weißen Rauschen der Beliebigkeit". Die Definitionsmacht wird hier nun von der kulturellen Gemeinschaft in den Bereich des Ego verlegt: Richtig und wahr ist nurmehr, was das Ich dazu erklärt. Diesem Prinzip liegt ein missverstandener und unreflektierter Freiheitsbegriff zugrunde, denn die einzige Freiheit besteht hier darin, dass das Individuum sich selber noch enger begrenzt. Die so entstehenden Wahrnehmungs- und Denkmuster halten wir für Wirklichkeit --- die Tantras hingegen sehen sie einfach als eine Art Neurose.

Die tantrische Philosophie des Buddhismus basiert auf der Lehre vom Nicht-Selbst. Dieses Selbst, das von den Tantras negiert wird, ist ein Produkt des diskursiven Geistes, d.h. eine idealisierte Person mit eingebildeten und postulierten Eigenschaften, mit der sich das Individuum im Guten wie im Schlechten identifiziert. Wichtigstes Prinzip der dualistischen Sichtweise ist die Vergöttlichung des idealisierten Selbst. "Vergöttlichung" bezeichnet hier den Prozess der Abgrenzung gegen andere Menschen, wobei die anderen als minderwertig herabgewürdigt werden, bzw. die Lebenswelt dieses Ich über alle anderen Lebenswelten erhoben wird. Auf dem Höhepunkt der Vergöttlichung des eingebildeten Selbst wird schließlich anderen Menschen überhaupt die Möglichkeit wirklichen Seins abgesprochen. So ist es gerade das Selbst, das, ganz gleich wie sehr es gefüttert, gepriesen, beweihräuchert und verherrlicht wird, den Menschen vom Sein zurückhält. Anders ausgedrückt: Die Welt des gewöhnlichen, dualistischen Geisteszustandes ist nichts, als ein System wahnhafter Fixierungen auf Vorstellungen über ein eigenes Selbst und auf Theorien über die Welt.

Die "Natur des Geistes" dagegen ist ein subtileres Bewusstsein, ein reines, erkennendes Gewahrsein, das von den Erscheinungen nicht getrennt ist. Dieses nichtduale Gewahrsein bildet ein Kontinuum absoluten Bewusstseins, das sich durch alle Erfahrungen und alles Sein zieht und als Urgrund aller Phänomene verstanden wird. Das Ich während einer friedlichen Unterhaltung bei Kaffe und Kuchen ist nicht identisch mit dem durch Jähzorn aufgewühlten Ich oder dem Ich eines Traumes. Was aber allen drei Ich-Zuständen zugrunde liegt ist der Geist-an-sich. "Sein" ist das Zusammenspiel der vielfältigen Daseinsfaktoren. "Bewusstein" ist erkennendes Gewahrsein. "Erfahrung" ist das Zusammentreffen von Ereignis und Bewusstsein (durch das Zusammentreffen von Zucker und Zunge/Geschmacksbewusstsein etwa entsteht die Erfahrung "süß"). Nicht-Dualität ist die Ungetrenntheit dieser drei Bereiche. Das Erleben einer solchen Einheit von Sein-Bewusstsein-Erfahrung bildet daher den Kern tantrischer Philosophie und das Ziel tantrischer Praxis. Tantrismus verlangt also nicht, dass das Individuum den unmöglichen Versuch unternimmt, sich in das vorgestellte gottgleiche Selbst zu verwandeln, sondern dass es seine Möglichkeiten und die ihm innewohnenden Potenziale entdeckt und verwirklicht, indem es in ein ungeteiltes und erkennendes Sein tritt.

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Gift und Weisheit

Ausgangspunkt tantrischer Praxis ist also zunächst einmal die allgemein buddhistische Beschreibung des Zustandes der Verblendung: Die Menschen sind verstrickt in illusionäre Annahmen und daraus resultierende Leidenschaften. Das eigentliche Sein der Welt ist gekennzeichnet durch Leerheit von inhärenter Eigenexistenz, d.h. Dinge bestehen aus Dingen bestehen aus Dingen etc.p.p. Die Erscheinungen sind also zusammengesetzt aus anderen Erscheinungen und bestehen in gegenseitiger Abhängigkeit einer unermesslichen Vielzahl von Faktoren - eine unabhängige Eigenexistenz einzelner Erscheinungen gibt es daher nicht.

Der Zustand der Verblendung wird aufrechterhalten durch die fünf Leidenschaften. Was die verschiedenen Strömungen des Buddhismus unterscheidet, ist ihr unterschiedlicher Umgang mit diesen Giften. Im Hinayana werden die Gifte und ihre Ursachen erkannt und durch Anwendung von Regeln und Gelübten vermieden und umgangen. Im Mahayana werden die Gifte in der Erkenntnis der Leerheit aufgelöst und wirkungslos gemacht. Im Tantra schließlich werden durch die Praxis des Gottheiten-Yoga die Gifte genutzt und in Weisheit transformiert.

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Zufluchtnahme und Initiation

Unabdingbare Voraussetzung für den Weg der Transformation sind die Zufluchtnahme und die Initiation durch einen authentischen Meister oder eine Meisterin. Zufluchtnahme ist das Prinzip, das einen Buddhisten zum Buddhisten macht. Die allgemeine und exoterische Form ist die Zufluchtnahme zu den "Drei Juwelen", d.h. zum Buddha, zum Dharma, der buddhistischen Lehre, und zum Sangha, der Gemeinschaft der Praktizierenden. Dem folgt im Tantrismus die esoterische Zuflucht zu den "Drei Wurzeln", d.h. zum spirituellen Lehrer (skt.: Guru; tib.: Lama), zur Meditationsgottheit (skt.: Deva; tib.: Yidam) und zur kreativen Kraft (skt.: Dakini; tib.: Khandro).

Nachdem ein Schüler die Lehren gehört, gelesen, reflektiert und für richtig befunden hat, tritt er mit dem Akt der Zufluchtnahme in die Praxis ein. Buddhismus ist ein Weg der Praxis. Alle Theorie dient lediglich als Vorbereitung und Hilfsmittel auf der Ebene diskursiven Denkens. Diese Ebene, also die Ebene der künstlichen Grenzziehungen, die auch den Geisteszustand der Illusion kennzeichnet, wird anfangs als hilfreiches Mittel genutzt, schließlich aber durch die aus der Praxis resultierenden Einsichten und Verwirklichungen überschritten. Bereits hier wird also Gift in Medizin verwandelt. Der tantrische Meister bzw. die Meisterin repräsentiert gleichermaßen die "Drei Juwelen" und die "Drei Wurzeln", d.h. die lebendige und authentische Lehrtradition und die Erfahrungen, die die Resultate der Praxis sind. So schafft sich der Schüler durch die Zufluchtnahme und den Kontakt zur authentischen Lehre einen Rahmen für die eigene Praxis, der es ihm ermöglicht, den Bereich reiner Fantasien und Wunschvorstellungen zu verlassen und in den Prozess realer und erfahrungsbezogener spiritueller Entfaltung einzutreten.

Durch die Initiation wird der oder die Praktizierende in das Mandala einer tantrischen Gottheit und ihres Gefolges eingeführt und erhält die Kraftübertragung der damit verbundenen Mantras und rituell-meditativen Praktiken. Außerdem versprechen die Schüler, die Praxis auch tatsächlich auszuführen und zu verwirklichen. An solch einer Initiation teilzunehmen bedeutet allerdings nicht automatisch, sie auch zu erhalten. Wem es vielleicht an Verständnisgrundlagen mangelt oder wer etwa überhaupt nur anwesend ist, sich aber ansonsten einem gänzlich anderen weltanschaulichen System zugehörig fühlt, der erhält einen Segen, sozusagen als hilfreichen Impuls.

So besteht also tantrische Praxis im Wesentlichen darin, dass durch die Zufluchtnahme ein Rahmen oder eine Basis formuliert wird, die der Fokussierung des Willens dient. Alle der Praxis und Verwirklichung entgegen gesetzten ich-haften Willensimpulse können so überwunden werden. Als nächstes wird dann der Gottheiten-Yoga ausgeübt. Dabei wird, der liturgischen Meditation folgend, der Praktizierende zur zentralen Gottheit und die Welt zum Mandala, also zum vollkommen reinen, herrschaftlichen Palast der Gottheit. Mit dieser Praxis wird die Begrenzung durch das dualistische Selbst zunehmend gelockert und schließlich überwunden. Die Welt wird als ursprünglich rein erlebt und so von dualistischer Wertung befreit. Die fünf Leidenschaften verlieren ohne die Schablone des dualistischen Selbst ihre spezifische Färbung als Leidenschaften. Dadurch werden sie in fünf ursprüngliche Weisheiten transformiert: Die Weisheit der grundlegenden Dimension der Existenz, die spiegelgleiche Weisheit, die Weisheit der Gleichwertigkeit, die unterscheidende Weisheit und die allesvollendende Weisheit. Das Ergebnis ist schließlich ein Zustand nichtkonditionierter kreativer Präsenz in einem reinen Sein, in der sich die im Individuum angelegten Potenziale ungehindert entfalten können.

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Ein Schlusswort: Pseudomystik der Postmoderne

Esoterik ist gesellschaftsfähig geworden. Nicht weiter erstaunlich, so scheint es, in unserer kapitalistischen Gesellschaft. Da hat sich ein Markt der Esoterik etabliert, der gleichermaßen die irrationalen Fantasien, wie auch die Konsumwünsche seiner Kunden bedient und sie dazu bewegt, nicht unerhebliche Summen zu zahlen. Und sie zahlen gerne, denn dieser Markt hilft ihnen, verschiedenen Bereichen ihrer sehr durchschnittlichen Lebenswelten einen irgendwie mystischen Anschein zu verleihen.

Sie wollen, dass sich die Schrankwand in ihrem Wohnzimmer vom baugleichen Typ im Wohnzimmer ihres Nachbarn unterscheidet? Na dann verwenden sie doch ein paar verspielte Accessoires. Hier ein Häkeldeckchen, dort eine Steingutvase mit künstlicher Patina. Beides relativ günstig bei Ikea erhältlich. Sie wollen, dass sich ihr ehelicher (oder auch außerehelicher) Koitus von der gleichen Tätigkeit ihres Nachbarn abhebt? Na dann ziehen sie ihn doch einfach etwas in die Länge. Nennen sie ihn "Tantra" und schwatzen sie ein wenig von "erotischer Ekstase-Technik" und "Kosmischem Orgasmus". Sie fühlen sich zu verwechselbar in ihrem bisherigen Lebensweg und haben schöne Fantasien von naturverbundener Wildheit und Macht? Prima, nennen sie sich "Hexe". Sie lassen sich gerne mal in watteweiche, gefühlvolle Naturbetrachtungen gleiten, drücken die dann in blumigen Wald- und Wiesenmetaphern aus und haben dabei eine irgendwie asiatische Empfindung? Wunderbar, bezeichnen sie sich halt einfach als "Taoisten". Historische oder philosophische Kontexte derartiger Begrifflichkeiten brauchen sie nicht zu kümmern, Hauptsache für sie fühlt es sich richtig an.

Tatsächlich spiegelt genau dieses "für MICH fühlt es sich aber SO richtig an" nichts anderes wider, als einfach nur die allgegenwärtige Vergöttlichung des Ich. Die esoterischen Kreise der "Neuen Hexen", "Neuheiden", "Magier", "Taoisten" und wie auch immer sie sich nennen mögen, behaupten für sich in der einen oder andren Form eine Andersartigkeit gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft. Bei genauerer Betrachtung beschränkt sich allerdings die Andersartigkeit meist auf rein sprachliche Formen. Innerhalb der kulturellen Parameter werden geringfügige Bedeutungsverschiebungen auf sprachlicher Ebene vorgenommen. Da wird dann eben irgendeine Tätigkeit umbenannt oder mit einem Begriff aus einer exotischeren Sprache belegt. Nur, was ändert das tatsächlich an der Tätigkeit oder demjenigen, der sie ausführt? Maximal der Eigendünkel des Handelnden ist verändert. Oder es werden innerhalb der gegebenen Parameter neue Argumente zur Legitimierung hedonistischer Handlungsmuster konstruiert, die dann eben etwas mystischer oder auch romantischer klingen. Aber wo liegt da eine Veränderung? Letztlich werden dabei Denk- und Handlungsmuster umbenannt und romantischer begründet, die eben so in dieser Gesellschaft gedacht und getan werden. Man sollte bei all diesen neuen Heiden, Hexen und Magiern mit ihrer vermeintlichen Andersartigkeit und marktschreierischen Geheimniskrämerei wirklich nicht zu genau hinsehen, andernfalls entdeckt man ein ungemein ernüchterndes Apologetentum der Durchschnittlichkeit, das in seiner Aggressivität und seinem elitären Getue doch nur die kulturelle Umgebung widerspiegelt, von der es sich so vehement unterscheiden möchte.

Im Tantrismus haben sich bis in unsere Gegenwart alte mystisch-magische Traditionen Eurasiens erhalten. Unterschiedliche Aspekte der in den Tantras dargestellten Sichtweisen und Methoden lassen sich in allen authentischen Lehren der Mystik und Magie rund um den Globus wieder finden. Statt sich aber für tatsächliche und authentische "Geheimlehren" zu öffnen und dafür gegebenenfalls auch die Mühe des Lernens auf sich zu nehmen, zieht sich das Gros der postmodernen Esoteriker lieber in die Gemütlichkeit privater Fantasiewelten zurück, in denen das Ego so wunderbar groß und glänzend erscheint, weil es sich eben sagt: "Ich bin groß und glänzend". Und was hierzu im Widerspruch steht, das wird dann einfach aus dieser Privatheit ausgeschlossen - nicht selten mit Hilfe von Verschwörungstheorien oder klischeehaften Feindbildern.

Geht man davon aus, dass sich unter diesen Esoterikern vielleicht doch die eine oder andre Person befindet, die tatsächlich ernsthaft auf einer spirituellen Suche ist, so ist wohl im Zusammenhang mit dem Esoterikmarkt und der von ihm produzierten Szene das Wort "Sumpf" angebracht, der die Suchenden doch nur in genau dem Gefängnis zementiert, dem sie entrinnen wollten.

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Leseempfehlungen:

Chögyal Namkhai Norbu: Spiegel des Bewußtseins. München: Diederichs Gelbe Reihe.

Dowman, Keith: Die Meister der Maham

udra. München: Diederichs.

Guenther, Herbert V.: Tantra als Lebensanschauung. Düsseldorf: ECON.

Mullin, Glenn H.: Female Buddhas: Women of Enlightenment in Tibetan Mystical Art. Santa Fe, New Mexico: Clear Light Publishers.

Donnerstag, 1. Mai 2008

Traditionelle Tibetische Medizin (TTM)

© Oliver Ohanecian

Ein kurzer geschichtlicher Überblick

Die traditionelle tibetische Medizin (TTM) gehört zu den großen, alten Medizinsystemen Asiens, neben der traditionellen chinesischen Medizin und dem indischen Ayurveda. Sie ist ein einzigartiges Heilsystem und eine der ältesten noch lebendigen Heiltraditionen der Welt. Die Wurzeln dieses Heilsystems reichen weit zurück in Tibets vorbuddhistische Geschichte und den Schamanismus des sogenannten alten Bön .

Der tibetische Terminus Bön bedeutet „rezitieren von Mantras“ und wurde in alten Texten auch durch das Verb gyer ersetzt, was als „anrufen“ übersetzt wird. Die im Bön überlieferten Medizinlehren befassen sich neben Kräutern, Astrologie u.ä. auch mit ritualistischen Heilungen, in denen der Heiler zwischen Götter- und Dämonenwelten und dem Kranken vermittelt, um so eine verloren gegangene Harmonie wieder herzustellen. Dabei spielt die Anwendung von Mantras eine wichtige Rolle. Mantras gelten als Aspekte der Wirklichkeit in Form von Klang und dienen der Austreibung von Krankheiten und Negativitäten, wie auch dem Vorgehen gegen jene, die solche Krankheiten hervorrufen. Vor allem den Anhängern des Bön, den Bönpos, und den Angehörigen der alten Schule des tibetischen Buddhismus, den Nyingmapas, sagt man bis heute den intensiven Gebrauch von Mantras nach. Als im Jahre 1717 unserer Zeit die Stämme der Zungar-Mongolen in Tibet einfielen, mussten daher Tibeter bei Treffen mit den mongolischen Anführern ihre Zungen herausstrecken. Sie mussten auf diese Weise demonstrieren, dass sie weder Bönpos waren, noch Nyingmapas, deren Zungen sich, so glaubte man, durch das unablässige Rezitieren von Mantras schwarz oder dunkelbraun färbten.

Für die Zeit des alten Bön wird von einer Vielzahl ritueller Praktiken berichtet, etwa das Dü Bön, bei dem man sich die Kräfte von Dämonen (Dü) nutzbar machen wollte, das Tsän Bön, der Kult der Tsän (eine Klasse schädlicher Wesen), oder auch verschiedene andere Kultformen, die sich der Praxis der Tieropfer bedienten. Zu irgendeinem Zeitpunkt – Bön-Quellen sprechen von 15 000 Jahren vor Beginn unserer Zeitrechnung, während Historiker auf etwa 2000 oder ca. 500 v.Chr. datieren - der tibetischen Geschichte erfolgte durch den erleuchteten Lehrer Shenrab Miwo im antiken Reich Zhang Zhung die Lehre eines erneuerten Bön. Der von ihm reformierte und systematisierte Bön wird als Yungdrung Bön bezeichnet. Yungdrung bedeutet Swastika, das Hakenkreuz, das etwas Ewiges und Unzerstörbares repräsentiert, dementsprechend ist auch vom Ewigen Bön die Rede. Shenrab Miwo wird als erleuchteter Buddha bezeichnet, der den Menschen mit dem Yungdrung Bön ein umfassendes System zur Schulung von Ethik und Weisheit vermachte . Grausame Opfer wurden dort durch Substitutionsriten ersetzt und die Praxis auf die Basis einer ethisch-philosophischen Ausbildung gestellt. Dieser Bön ähnelt sehr stark der alten Schule des tibetischen Buddhismus, Nyingma, weshalb heutzutage bisweilen auch von einem Bön-Buddhismus die Rede ist. Tatsächlich fand zwischen der Nyingma-Schule und dem Bön durch die Jahrhunderte ein reger Austausch statt, woraus im 14. Jahrhundert der sogenannte Neue Bön hervorging, der eine Synthese zwischen den Nyingma- und Bön-Lehren darstellt.

Die Bönpos kannten die medizinischen Kräfte des Heilpflanzenschatzes der tibetischen Hochebene, ein systematisiertes medizinisches Wissen scheint aber nur ansatzweise existiert zu haben. Medizinische Böntexte, die nach der Einführung des Buddhismus verfasst wurden, weisen bereits einen ayurvedischen Einfluss auf. Das Standardwerk des medizinischen Wissens der Bön-Überlieferung, ein Werk mit dem Titel „Die 400 000 Wege der Heilkunst“, wird zurückgeführt auf den Sohn Shenrab Miwos. 1993 wurden im Westen Tibets in der Region Ngari, der Gegend, in der das antike Reich Zhang Zhung lag, Steine mit Gravuren einiger Worte der Zhang Zhung-Sprache gefunden. Dies könnte darauf hindeuten, dass in dieser Region tatsächlich bereits in vorchristlicher Zeit eine Schriftsprache existierte .

Ab dem 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gab es historischen Berichten zufolge einen Austausch zwischen indischen und tibetischen Ärzten. Die Übermittlung des Heilwissens geschah ursprünglich innerhalb einer Familienlinie, in der Regel vom Vater auf den Sohn. Die erste dieser Familientraditionen von Ärzten wurde zwischen dem 2. und dem 5. Jahrhundert gegründet .

Einen absoluten Wendepunkt in der Geschichte und Kultur Tibets stellte die Einführung des Buddhismus dar. Sie wurde im 7. Jahrhundert unter der Herrschaft des 32. Königs Songtsen Gampo (617 - 650) eingeleitet, der das erste und letzte tibetische Großreich gegründet hatte. Songtsen Gampo war mit zwei Frauen verheiratet, einer nepalesischen und einer chinesischen Prinzessin, beide Buddhistinnen. Er konvertierte zum Buddhismus und ließ den ersten buddhistischen Tempel errichten. Unter seiner Ägide setzte ein reger Austausch der Kulturen zwischen Tibet, Indien und China ein. Zu dieser Zeit wurde durch den Gelehrten Thomi Sambhota eine tibetische Schriftsprache entwickelt und der indische Arzt Dharmakosha übersetzte gemeinsam mit dem chinesischen Arzt Hashang Mahadeva medizinische Texte ins Tibetische. Ein für die weitere Entwicklung der tibetischen Medizin sehr wichtiges Ereignis war zudem das Treffen der drei großen Ärzte Bara Datsa aus Indien, Hen Wong Hong aus China und Galeno aus Persien. Sie fassten ihre Erfahrungen unter dem Titel „Die Waffe der Unbesiegbarkeit“ zusammen, ein Werk, das leider im Laufe der Zeit verloren ging. Galenos Name legt nahe, dass er die altgriechisch-persische Medizin verkörperte, die durch ihn nach Tibet gelangte. Galeno blieb als Leibarzt des Königs in Tibet und gründete eine große Familiendynastie der tibetischen Medizingeschichte mit dem Namen „Tsoru“ .

Auch unter dem 37. König Me Ok-Tsom (698 – 755) wurden Ärzte aus Indien, Persien und China nach Tibet eingeladen. Aus ihrer Zusammenarbeit mit dem bedeutenden tibetischen Arzt Chunpo Tsitsi entstand ein medizinisches Werk mit dem Namen Soma Ratsa (Mond König). Auch in diesem Fall wurde durch den Persischen Arzt eine Familienlinie gegründet, die als „Bichi-Linie“ bekannt ist .

Unter der Herrschaft des 38. Königs Trisong Detsen (742 – 796) wurde der Buddhismus Staatsreligion. Der König lud den tantrischen Meister Padmasambhava nach Tibet ein, durch dessen Wirken sich der Vajrayana-Buddhismus durchsetzte. Padmasambhava war berühmt für seine Meisterschaft aller tantrischen Disziplinen, darunter auch die tantrische Medizin, und wird als zweiter Buddha verehrt . Unter anderem verfasste er auch medizinische Texte, die in Tibet aufbewahrt wurden, und gab Prophezeiungen über künftige neue Krankheiten und mit welchen Mitteln und Meditationen sie geheilt oder verhindert werden könnten. Diese Unterweisungen versteckte er dann zum Wohle zukünftiger Generationen an unterschiedlichen Orten, wo sie bei Bedarf und zu ihrer Zeit von geeigneten „Schatzfindern“ (tib. Terton) hervorgeholt werden sollten. Diese Tradition der kurzen Linie der Lehrübermittlung von Padmasambhava auf Schüler in späteren Jahrhunderten wird als Terma bezeichnet, im Gegensatz zu Kama, der kontinuierlichen Lehrüberlieferung vom Lehrer auf den Schüler durch die Jahrhunderte hinweg . Die Schatztexte bilden insbesondere in der Nyingma-Schule eine eigene Literaturgattung. Padmasambhava verankerte den Buddhismus in Tibet, erbaute Tibets erstes Kloster, weihte den König und andere in die tantrischen Lehren ein und prophezeite, dass der Buddhadharma nach Jahrhunderten der Blüte in Tibet schließlich nach Westen gelangen würde .

Im Jahr 762 wurde die erste medizinische Hochschule gegründet. Ihre Leitung oblag Vairocana, einem berühmten Übersetzer und Schüler Padmasambhavas. Die Hochschule wurde an der Grenze der osttibetischen Region Kham errichtet und nach ihrer Eröffnung durchliefen zunächst dreihundert Studenten das zehnjährige Studium. Nach Abschluss des ersten Lehrzyklus begann der zweite bereits mit tausend Studenten. In der Folge wurde die Hochschule zu einem Zentrum für Forschung und Studium. Und aufgrund der königlichen Vorliebe für Pferde wurde auch eine Veterinärmedizin eingeführt. Vermutlich erfolgte zu dieser Zeit eine Integration der medizinischen Bön-Lehren durch Vairocana in Zusammenarbeit mit dem tibetischen Arzt Yuthok Yönten Gonpo dem Älteren .

Yuthok Yönten Gonpo war der erste in der Liste der Arzt-Heiligen Tibets. Etwa 762 berief der König eine Art internationale Konferenz über tibetische Medizin ein, zu der neun Ärzte aus China, der Mongolei, Nepal, Turkistan, Persien, Indien, Kaschmir, Sinkiang und Afghanistan eingeladen wurden. Yuthok nahm als Vertreter Tibets an dieser Konferenz teil. Alle Ärzte übersetzten Texte aus ihren jeweiligen Traditionen und es gab einen Disput, aus dem, der tibetischen Überlieferung zufolge, Yuthok als Sieger hervorging. Um das tibetische System mit dem indischen zu vergleichen, reiste er dreimal nach Indien und besuchte die Zentren der buddhistischen Gelehrsamkeit, wie die Klosteruniversität Nalanda. Er wird auch mit dem wichtigsten Text der tibetischen Medizingeschichte in Verbindung gebracht, den Vier Tantras der Medizin, auf tibetisch Gyüshi. Seine genaue Rolle in Bezug auf diesen Text ist unklar. Er soll ein Sanskrit-Original dieses Tantras studiert, es dann übersetzt und kommentiert haben. Das Gyüshi wurde dann in einer der Säulen des Samye-Klosters verborgen, damit es von einem späteren geeigneten Menschen wieder entdeckt werden konnte und so der Menschheit erhalten blieb. Somit ist dieser wichtigste Medizin-Text der Termatradition zuzurechen .

Im zwölften Jahrhundert lebte Yuthok Yönten Gonpo der Jüngere. Er war ein Nachkomme Yuthok des Älteren und von ähnlich herausragender Bedeutung für die tibetische Medizingeschichte, wie sein Vorgänger. Zu der Zeit seines Wirkens war das Gyüshi bereits im Kloster Samye wieder aufgefunden worden, so dass er mit dessen Lehren vertraut war. Sechsmal reiste er außerdem nach Indien, einmal sogar nach Ceylon, um die dortigen Versionen des Gyüshi kennen zu lernen und zu vergleichen. Anschließend schrieb er eine Neufassung und einen Kommentar mit dem Titel „Die achtzehn zusätzlichen Hilfsmittel“, der gleichzeitig eine Einführung in die Geschichte der Medizin war. Seine Bearbeitung des Gyüshi blieb die Standartfassung dieses Textes .

Im 14. Jahrhundert gab es zwei berühmte Ärzte, die schrieben und lehrten. Jangpa und Zurkarpa wurden die Begründer zweier konkurrierender medizinischer Systeme, bekannt als Janglu und Zurlu. Im 17. Jahrhundert machten sich in diesen Systemen Verfallserscheinungen bemerkbar, weshalb der 5. Dalai Lama die Gründung einer neuen Hochschule verfügte. So erfolgte auf dem so genannten Eisenberg bei Lhasa der Aufbau der Chagpori-Hochschule. 1754 folgte die Gründung der Palpung-Hochschule, an der die Fünf Zweige des Wissens gelehrt wurden, nämlich Astrologie, Medizin, Mathematik, Poesie und Linguistik. Palpung avancierte schnell zu einer der führenden Hochschulen Tibets .

Der 13. Dalai Lama gründete 1916 eine weitere Hochschule in der Hauptstadt Lhasa, den Men-Tsee-Khang. Nach der Flucht des 14. Dalai Lama ins indische Exil wurde der Men-Tsee-Khang als ein „Tibetisches Institut für Medizin und Astrologie“ im nordindischen Sitz der Exil-Regierung, Dharamsala, neu errichtet. Das Institut bildet heutzutage Ärzte aus, hat ein angegliedertes Hospital und stellt die traditionellen Arzneimischungen her .

Das ehrwürdige Chagpori-Institut wurde in Darjeeling unter der Leitung des Lamas und Arztes Dr. Trogawa Rinpoche neu gegründet und bildet heute ebenfalls wieder Ärzte aus.

Seit wenigen Jahren existiert auch eine internationale Akademie für traditionelle tibetische Medizin, die von dem jungen Arzt Dr. Nida Chenagtsang gegründet wurde und in mehreren europäischen Ländern, Kanada, Australien, der Mongolei und auch in Tibet selbst eine Ausbildung in Teilaspekten oder auch der vollständigen traditionellen Medizin anbietet. Diese Möglichkeit wird vorwiegend von Ärzten und Heilpraktikern wahrgenommen .


Der mythische Hintergrund

Der buddhistischen Überlieferung zufolge liegt, unabhängig von historischen Entwicklungen und Persönlichkeiten, der eigentliche Ursprung allen Heilwissens im Buddha selbst. Heil und Heilung sind in der tibetischen Medizin aufs Engste miteinander verwoben. Der buddhistischen Legende zufolge liegt der Ort der Offenbarung allen Heilwissens in Tanatuk, dem Paradies der Heilung. Dort erschien der historische Buddha Shakyamuni in Gestalt des Vaidurya, des dunkelblau strahlenden heilenden Buddhas, um das Wissen vom Heilen darzulegen. Er manifestierte dort zwei Emanationen, nämlich den Geist des heilenden Buddhas, den Weisen Rigpai Yeshe, und den Weisen Yile Kye, die Verkörperung der Rede des heilenden Buddhas. Die im Tantra der Heilung, dem Gyüshi, aufgezeichnete Lehre über die Ursachen und Behandlungsweisen von Krankheiten ist gekleidet in die Form eines langen Dialoges zwischen diesen Emanationen des Buddhas .

Unter den Zuhörern befanden sich Gottheiten, Rishis , Buddhisten und Nicht-Buddhisten. Sie alle verstanden so viel, wie es ihrem jeweiligen Fassungsvermögen entsprach, und verfassten dementsprechende verschiedene Abhandlungen über das, was sie gehört hatten. Allein Yile Kye verstand alles und schrieb die vollständige Lehre vom Heilen in 5900 Versen mit einer Tusche aus Lapislazuli auf Blättern nieder, die aus reinem Gold bestanden. Diese Schrift wurde dann von den Dakinis im mythischen Land aufbewahrt und gehütet .


Gyüshi – die vier Tantras der Medizin

Die Vier Tantras, das Gyüshi, gelten als Essenz der tibetischen Medizin . Es heißt, sie enthalten in verdichteter Form das gesamte medizinische Wissen Tibets und haben ihren Ursprung im Buddha selbst. Somit ist das Gyüshi mehr, als einfach nur ein Lehrtext über das Heilen. Vielmehr haben die Vier Tantras und die Fähigkeit des Heilens eine zutiefst sakrale Qualität und sind im Heil verankert. Heilung strebt in letzter Konsequenz mehr an, als lediglich die Beseitigung von Krankheitssymptomen. Der größte Arzt ist der Buddha selbst, daher liegt Heilung im höchsten Sinne in der Erlangung des Zustandes der Buddhaschaft.



1. Das Grund- oder Wurzeltantra
Im Wurzeltantra werden die Bestandteile des Körpers und der kranke Körper in Gestalt eines Baumes dargestellt. Aus der Wurzel gehen zwei Stämme hervor, der Stamm des gesunden Körpers und der Stamm des kranken Körpers. Dem Stamm des gesunden Körpers sind drei Zweige zugeordnet:
1. die Körpersäfte (Energien)
2. die Grundstoffe, aus denen der Körper besteht
3. die Ausscheidungen

Aus dem Stamm des kranken Körpers gehen neun Zweige hervor:
1. die Ursachen von Krankheit
2. Bedingungen für Krankheit
3. Einfallstore von Krankheit
4. die Orte, an denen sich Krankheiten manifestieren (Körperteile)
5. die Zirkulationswege
6. das Entstehen von Krankheiten
7. die tödlichen Wirkungen
8. die Nebenwirkungen
9. eine Zusammenfassung

Die Krankheiten werden im Wurzeltantra in vier Gruppen geordnet:
1. Kinderkrankheiten
2. Krankheiten der Erwachsenen
3. Frauenkrankheiten
4. Alterskrankheiten

Außerdem beschreibt es die Organe des Körpers und stellt die Lehre der drei Körpersäfte, die Diagnosemethoden und die allgemeinen Behandlungsgrundlagen dar.

2. Das erklärende Tantra
Der zweite Teil des Gyüshi besteht aus 31 Kapiteln, die nacheinander die Phasen des menschlichen Lebens beschreiben: Geburt, Entwicklung, Reifung, Altern, Tod und Wiedergeburt. Das Leben wird unterteilt in drei große Abschnitte: Von der Geburt bis zum 16. Lebensjahr, von 16-50, von 50 bis zu Alter und Tod. Es enthält:
- Embryologie (mit Empfängnis und Schwangerschaft)
- Anatomie und Physiologie
- Erläuterungen zur Rolle der drei Körpersäfte
- die 2000 Heilmittel, die das Gleichgewicht wieder herstellen können
- Diät, Menge und Art der Nahrung, sowie zu vermeidende Speisen.

Krankheiten werden unterteilt in Geisteskrankheiten und somatische Erkrankungen, geordnet nach ihrem Sitz. Es werden auch Krankheiten durch Vergiftungen erörtert, sowie Umweltkrankheiten . Außerdem ist ein Kapitel über Sexual- und Körperhygiene enthalten, sowie eines über ethische Normen.

3. Das Tantra der mündlichen Tradition
Der dritte Teil besteht aus 52 Kapiteln, in denen alle bekannten Krankheiten nach ihrer Beziehung zum Ungleichgewicht der drei Säfte behandelt werden. Es ist unterteilt in:
- Ätiologie
- Pathologie
- Therapie
- Analyse der Krankheit in Bezug auf geschichtliche Epochen

Außerdem werden in einem eigenen Kapitel die Beziehungen der tibetischen Medizin zum Buddhismus geschildert.

4. Das Folge-Tantra
Das vierte Tantra ist ausführlich den therapeutischen Methoden gewidmet:
- Urin-Diagnose
- Puls-Diagnose
- Chinesische Techniken: Moxa, Akupunktur
- Methoden der Entfernung von Giften (z.B. Erbrechen)
- Verschiedene Methoden: - einfache (Umschläge, warme und kalte Kompressen)
- drastische (Chirurgie und Aderlass)
- Auf- und Zubereitung der Heilmittel

Darüber hinaus werden elf Grundprinzipien aufgelistet:
1. Synthese der Grundelemente
2. Existenz des Körpers und seine Umwandlungen
3. Entstehen und Abklingen von Krankheiten
4. Verhalten
5. Ernährung
6. Heilmittelpräparate
7. Gebrauch der medizinischen Instrumente
8. Immunität gegen normale Krankheiten
9. Diagnose
10. Heilmethoden
11. Verhalten des Arztes


Das Yuthok Nyingthig

Das Idealbild eines Arztes ist in Yuthok dem Jüngeren dargestellt. Der Begriff „Arzt“ ist hierbei nicht allein eine Berufsbezeichnung, sondern hat außerdem eine tiefgehende spirituelle Bedeutung. Der ideale Arzt beseitigt nicht allein die Symptome einer Krankheit, sondern er ist eine Verkörperung des Heiligen, eine Emanation des Buddhas . So repräsentiert Yuthok Yönten Gonpo der Jüngere die spirituelle Dimension der tibetischen Medizin. Auf ihn werden „zwei Juwelen“ zurückgeführt, nämlich die revidierte Fassung des Gyüshi und das Yuthok Nyingthig, eine wichtige Sammlung spiritueller Praktiken für Ärzte und Heilkundige der traditionellen tibetischen Medizin. Die wörtliche Bedeutung von Yuthok Nyingthig ist „Die Herzessenz [der Lehren] von Yuthok“. Das Ziel der in diesem Zyklus gesammelten spirituellen Praktiken besteht darin, die Praktizierenden zu einer Erfahrung der Einheit von Medizin und Spiritualität zu führen. Diese Erfahrung gipfelt in der Verwirklichung einer harmonischen Integration von Körper, Geist und Energie in die subtilste Form der fünf Elemente, aus denen die Erscheinungswelt besteht .

Der so genannte Wurzeltext des Yuthok Nyingthig gilt als die Essenz von Yuthoks spirituellen Lehren. Yuthok sah spirituelle Praktiken, Yoga und Meditation als integralen Bestandteil der Ausbildung eines jeden Arztes. Der Yuthok Nyingthig Wurzeltext enthält :

- Ngondro Praxis - vorbereitende Übungen
- vier Formen des Guru-Yoga mit Yuthok
- ein großes Kapitel über Tibetisches Medizinisches Yantra Yoga (körperliche Übungen)
- fünfzehn Kapitel über Physiologie und Pathologie (einschließlich Störungen der drei Säfte, Infektionskrankheiten, Schmerz, Trauma und Vergiftung)
- ein kompletter Zyklus von Vajrayana Praktiken
- Khyed Rim - Erzeugungsstufe (Praxis der drei Wurzeln )
- Dzog Rim - Vollendungsstufe, d.h. Sechs Yogas, bestehend aus Tummo , Gyulus -, Klares Licht -, Bardo -, Powa - und Traumpraxis
- Dzogchen - Die Praxis der Großen Vollendung
- Man Drub - Heil- und Schutzmantras
- die Praxis der Schützergottheiten des Heilwissens
- Unterweisung in einer speziellen Form der Pulsdiagnose. Hierfür geht der Praktizierende für einen Monat ins Retreat, um Übungen auszuführen, die ihn auf das Lesen des Patientenpulses vorbereiten.
- Die Praxis des Yuthok Nyingthig soll zur Entwicklung spezieller Fähigkeiten der Klarsicht und Hellsichtigkeit, die den Arzt befähigen, ein besserer Heiler zu sein.

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Der ideale Arzt zeichnet sich nach tibetischem Verständnis nicht allein durch seine gründlichen Kenntnisse der medizinischen Lehren und ihrer Anwendungen aus, sondern auch durch eine ausgeprägte Intuition, einen unerschütterlich klaren Geist und eine tiefgründige Erkenntnis, die über das konzeptuelle Bewusstsein und seine intellektuellen Möglichkeiten weit hinausreicht. Er ist Gelehrter, Heiler und Mystiker in einer Person. Ikonographisch wird dies im Bild des Yuthok zum Ausdruck gebracht. Er sitzt auf einem Lotos und einer Mondscheibe. Der Lotos bedeutet Reinheit, der Mond symbolisiert die Methode und das Formhafte. Seine in der Lotosposition überkreuzten Beine zeigen eine ausgeglichene Unerschütterlichkeit. Sein Kopf ist mit medizinischen Pflanzen geschmückt. Seine rechte Hand hält in der Geste höchsten Gebens, ruhend auf dem rechten Knie, was Aktivität symbolisiert, einen Lotos, auf dem sich ein Buch und ein Weisheitsschwert befinden. Dies kennzeichnet den vollkommenen Arzt als eine Person von großer Gelehrsamkeit und gut ausgebildetem Intellekt. Gleichzeitig hält er mit der linken Hand einen Lotos, der seinem Herzen entspringt. Auf ihm befinden sich eine Langlebensvase und ein Vajra. Die Langlebensvase ist ein Attribut von Amitayus, dem Bodhisattva des langen Lebens, und drückt die Fähigkeit aus, das Leben zu verlängern und die Lebensqualität zu verbessern, sowohl medizinisch, als auch spirituell. Der Vajra symbolisiert das unergründliche, unerschütterliche, unveränderliche, unteilbare und unzerstörbare Sein der absoluten Wahrheit und letzten Wirklichkeit, d.h. die Verwirklichung der Erleuchtung der Buddhaschaft .

Auf diese Gestalt des Arzt-Heiligen wird von den angehenden Ärzten Guru-Yoga geübt. Dabei wird diese Gestalt visualisiert, ihre Bedeutung vergegenwärtigt und ihr Mantra, d.h. Yuthok in Form von Klang, rezitiert. Sind die vollendeten Qualitäten des Arzt-Heiligen auf diese Weise schließlich gegenwärtig, so verschmilzt die Gestalt mit dem Meditierenden, um so ein entsprechendes Potential zur Entfaltung zu bringen: Der Meditierende wird Yuthok.

Einige allgemeine Grundlagen

Die philosophische Basis der tibetischen Medizin bildet die Lehre vom bedingten Entstehen, tibetisch Tendrel, ausformuliert in der Madhyamaka-Philosophie , die auf den indischen Philosophen und buddhistischen Heiligen Nagarjuna zurückgeht. Diese Lehre besagt im wesentlichen, dass die Wesen und Phänomene aus vielerlei Faktoren zusammengesetzt und daher ohne ein Selbst sind. Im Substanzbegriff der weit verbreiteten dualistischen Logik von Sein und Nicht-Sein wird den empirisch erscheinenden Dingen eine Eigennatur unterstellt: Die Erscheinung wird als eigenständig seiende Größe begriffen und beschrieben. Allerdings wird "Sein" in der Philosophie vom abhängigen Entstehen definiert als tatsächlich Eigennatur besitzend, dadurch unabhängig und dadurch ewig, nämlich allen Wechselfällen enthoben. "Nicht-Sein" wird hierbei dann verstanden als Ausdruck von Vernichtung.

Diesen Begriffen von "Sein" und "Nicht-Sein" stehen die empirischen Erscheinungen gegenüber, die durch ihr Entstehen und Vergehen belegen, dass sie in stetem Wandel begriffen sind, mithin also weder "Sein" noch "Nicht-Sein" auf sie zutrifft. So bildet dieses "weder - noch" die zwei weiteren Eckpfeiler dieser Lehre. So gibt es die Eckpunkte "Sein", "Nicht-Sein", "weder Sein", "noch Nicht-Sein", mit deren Hilfe die Erscheinungswelt betrachtet wird. Nach dieser Art der Betrachtung spielt sich die Welt zwischen Sein und Nicht-Sein als ein dynamischer Prozess der Bedingtheiten ab. Die Erscheinungen sind nicht, denn dann wären sie ewig; sie werden auch nicht vernichtet, denn sie besitzen eben keine Eigennatur. Sie sind ohne diese unabhängige Eigennatur, weil sie in all ihren Aspekten zusammengesetzt sind: Dinge bestehen aus Dingen bestehen aus Dingen etc. Sie sind zeitlich befristete Erscheinungen, die von fluktuierenden Daseinsfaktoren hervorgebracht werden. Diese Daseinsfaktoren bringen sich in ständiger Bewegung gegenseitig hervor. Sie werden als Dharmas bezeichnet, die zu fünf Gruppen oder Hauptkategorien gebündelt werden, den so genannten Skandhas.

Welt ist hierbei ein dynamischer Prozess unablässigen Werdens, dem kein Substrat zugrunde liegt. Das bedeutet, dass die Erscheinungen nicht sind, sondern geschehen. Dies tun sie allerdings auch nicht monolinear kausal, d.h. es gibt keine einzige und erste Ursache, sondern konditional, d.h. die einzelnen Daseinsfaktoren sind nicht alleinige Ursache, sondern Bedingung neben an deren Bedingungen.

Der Wahrheitsbegriff erfährt in dieser Sichtweise eine Teilung in relativ und absolut. Relativ sind hierbei die sprachlich fassbaren und kategorisierbaren Wahrheiten der Erscheinungswelt, die sich nach den Regeln der Logik ordnen lassen. Hier besteht ein Gewahrsein für die unzähligen möglichen Sichtweisen, Beschreibungen etc. Die Wahrheit der Naturwissenschaften steht hier gleichwertig neben den Wahrheiten der Künste, Religionen usw., sowie neben all den individuellen relativen Wahrheiten. Die letzte Wirklichkeit jedoch, also die absolute Wahrheit, liegt jenseits all der Formen des relativen Bereiches. Erfahrung der absoluten Wahrheit ist die Erfahrung der Transzendenz und Zeitlosigkeit - des Seins.

Körper-Energie-Geist bilden eine Gesamtheit aus Wirksamkeiten, die nicht getrennt von der sie umgebenden Welt sind. Sie sind zusammengesetzt aus einer Vielzahl verschiedener Phänomene und entstehen und vergehen im Zusammenspiel äußerer und innerer Faktoren. Es gehen gleichermaßen Handlungen von diesem Körper-Geist-System aus, wie auch die wahrgenommenen Dinge zu diesem Zentrum hin orientiert sind. Der innerste Kern des Individuums ist das Zentrum des von ihm wahrgenommenen Universums. Die Gesamtheit der Wirksamkeiten umfasst fünf psychophysische Bestandteile, fünf elementare Kräfte und fünf Sinnesobjekte.

Die psychophysischen Bestandteile sind
- Farbe/Form als erkenntnistheoretisches Objekt in wahrnehmbaren Situationen,
- Gefühlsurteil/Empfindung,
- Unterscheidungsfähigkeit/Begriffsbildung,
- diskursives Denken
- abstrakte Wahrnehmung/Bewusstsein.

Die fünf Elemente sind
- Erde (Festigkeit),
- Wasser (Kohäsion und Fliessen),
- Feuer (Temperatur und Licht),
- Luft (Beweglichkeit und Schnelligkeit)
- Raum (umfassende Weite)

Die fünf Sinnesobjekte sind:
- Farbe
- Klang
- Geruch
- Geschmack
- Struktur

Die individuellen Lebenswelten entstehen durch die Begegnung der Sinne mit ihren jeweiligen Sinnesobjekten. Erhalten werden sie als individuelle Lebenswelten durch wertende Unterscheidung, subjektive Standpunke, latente Neigungen, Wünsche und Emotionen, die aus diesen Faktoren resultieren und ihrerseits wiederum verstärkend auf sie einwirken.

In diesem Zusammenhang ist der Terminus Karma zu betrachten. Wörtlich bedeutet er „Tat“ und wird mit unablässigem Wind und Samenkörnern verglichen. Der buddhistischen Lehre (Dharma) zufolge ist die Vorstellung es gäbe ein „Ich“ im Sinne einer abgegrenzten Person, also ein Selbst bzw. eine Seele, bereits eine grundlegende Illusion über das Wesen der Wirklichkeit. Aus dem Zusammenspiel der Daseinsfaktoren entstehen gleichermaßen die äußere und die innere Welt. So ist das Ich oder Selbst gleichfalls ein Erzeugnis dieses Prozesses. Die Vorstellung eines eigenständig existierenden Selbst bzw. eines ewigen Persönlichkeitskernes im Sinne einer Seele wird daher verneint. Eine Ewigkeit oder Kontinuität wird allein dem subtilen Geist zugeschrieben. Die Gesetzmäßigkeit des bedingten Entstehens ergibt sich aus dem unablässigen Wandel der Welt: Jede Handlung, die aus verblendeten Willensimpulsen hervorgeht, gestaltet demnach die dynamische Welt neu, auf der materiellen wie auch auf den geistigen Ebenen, indem sie Daseinsimpulse setzt, die zu gegebener Zeit unter dem Einfluss sekundärer Ursachen, die ihnen entsprechen, zur Reife gelangen und die erlebten Wirklichkeiten formen .

So ist auch die „Wiedergeburt“ geknüpft an den Karmabegriff. Durch Karma werden die Daseinsfaktoren zu neuen Existenzen, Persönlichkeiten und Lebenswelten zusammengefügt. Dargestellt wird dies im Bild des Bhavachakra, wörtlich das „Rad des Werdens“. Es zeigt in seiner Nabe drei Symboltiere, die die so genannten Geistesgifte Gier, Hass und Unwissenheit repräsentieren: Ein Schwein (Unwissenheit), ein Hahn (Gier) und eine Schlange (Hass). Umgeben ist die Nabe von einem Ring, der in eine schwarze und eine weiße Hälfte unterteilt ist. Er stellt das Karma dar, das aus den Geistesgiften hervorgeht und zu Existenzen in verschiedenen Erlebniswelten und Daseinsbereichen führt. Es werden sechs Daseinsbereiche unterschieden, aus denen der nächste Ring zusammengesetzt ist. Den äußeren Kreis bildet dann die Kette des abhängigen Entstehens, der so genannte Konditionalnexus. Jedes seiner Glieder ist nicht alleinige Ursache (causa), sondern nur eine Bedingung (conditio) neben anderen dafür, dass das nächste Glied entsteht . Gehalten wird das Rad von einer dämonisch anmutenden Gestalt, die exoterisch und esoterisch interpretiert wird. In der exoterischen Deutung gilt die Gestalt als der Herr des Todes . Andererseits trägt sie die fünffache Schädelkrone, was die Überwindung der Ursachen Samsaras zum Ausdruck bringt, und ist auf der Stirn mit einem dritten Weisheitsauge gekennzeichnet. Beides gemeinsam bezeichnet ein überweltliches Wesen. So sehen esoterische Interpretationen in dieser Figur eine Manifestation des erleuchteten Bewusstseins, des Heiligen, das allen Erscheinungen zu Grunde liegt . Dies bedeutet, dass sich das Heilige aus allen Erscheinungen heraus offenbaren kann. Ein Unterschied zwischen heilig und profan, rein und unrein ist dann aufgehoben .

Die sechs Daseinsbereiche des Buddhismus, wie sie im Bhavachakra dargestellt sind, werden gleichermaßen psychologisch und wörtlich verstanden. So kann sich ein gewöhnliches Bewusstsein durch mentale und emotionale Zustände bewegen, die sich den sechs Daseinsbereichen zuordnen lassen. Ein menschliches Bewusstsein, das etwa der Sphäre der Halbgötter entspricht, ist gekennzeichnet durch eine Neigung zu Wettkampf und Neid, während die Sphäre der Hungergeister Geiz und Zustände eines unstillbaren und quälenden Hungers nach Erfahrungen repräsentiert; die Sphäre der Tiere steht für leidhafte Dumpfheit und die Höllen für maßlose Aggression und immer wiederkehrende, unermessliche Qualen. Die Götterwelt dagegen repräsentiert selbstgefälligen und egozentrischen Zustand tiefer Glückseligkeit. Die menschliche Sphäre versinnbildlicht einen Zustand der Begierde, aber auch des Ausgleiches von Extremen.

Neben ihrer psychologischen Bedeutung gelten die Daseinsbereiche jedoch auch als Welten, die parallel zu unserer menschlichen existieren. Und die Bereiche können positiv wie negativ aufeinander einwirken. Je unachtsamer und verblendeter ein Mensch in seinem Handeln ist, desto stärker mögen sich seine Aktivitäten negativ auf andere Daseinsbereiche auswirken. Die dort beheimateten Wesen können dadurch gestört und geschädigt werden, weshalb sie sich wiederum an den Menschen rächen, indem sie Krankheiten, Katastrophen, Kriege und ähnliches verursachen.

Allgemein ist es wichtig, das eigene Handeln unter dem Gesichtspunkt seiner karmischen Auswirkungen zu überdenken. Besonders gilt dies aber für einen Arzt. So heißt es im zweiten Tantra des Gyüshi, im Tantra der Erklärung:

„Eine Person, die Gift genommen hat, wird einen trockenen Mund verspüren, schwitzen, in Furcht erzittern, ruhelos sein und mit Schuld und Besorgnis in alle Richtungen blicken. Hat man Obengenanntes verstanden, dann sollte man sich künftig davor hüten, anderen Schaden zuzufügen.“




Die Ziele der TTM

Die TTM verfolgt zwei Ziele : Vorbeugung und Heilung.
1. Vorbeugung: Krankheit wird verstanden als ein Ungleichgewicht und diesem Zustand soll vorgebeugt werden, denn Vorbeugung hat einen höheren Stellenwert, als Heilung. Daher wird gesagt: „Selbst wenn man nicht krank ist, muss man achtsam sein“ (tib. Minawa neypar che). Vorbeugung erfolgt durch eine gute Lebensführung und eine achtsame Ernährung.
2. Heilung: Wenn es zu einem Ungleichgewicht kommt, so manifestiert sich Krankheit. Aufgabe der Medizin ist es dann, das Gleichgewicht wieder herzustellen, indem sie mit den zugrunde liegenden Ursachen und Wirkungen arbeitet. Dabei gilt das Augenmerk zunächst der Ernährung und Lebensführung des Patienten, die ggf. korrigiert werden. Darauf folgt dann die Behandlung mit Kräuterarzneien und die Anwendung äußerer Therapieformen.

Überblick über die TTM
Traditionell wird die TTM mit einem großen Garten verglichen: ein vollständiges Studium umfasst die 99 Bäume des Wissens. Der Baum ist hierbei ein Bild des Menschen, andererseits handelt es sich um eine Mindmap der medizinischen Lehren. Die Bäume werden gewissermaßen im Gehirn gepflanzt.

Der erste dieser Bäume behandelt den Zustand des Menschen und hat zwei Äste:
1. Der erste Ast beschreibt den gesunden Menschen, bei dem sich Körper, Energie und Geist in einem Zustand der Ausgewogenheit befinden. Grundsätzlich benötigt der Mensch ein energetisches Gleichgewicht. Energie ist die Verbindung zwischen Körper und Geist. Gerät die Energie aus dem Gleichgewicht, so geraten auch Körper und Geist aus dem Gleichgewicht und das führt zu einer Erkrankung. Ein gutes Gleichgewicht hingegen führt zu einem gesunden Körper, einem klaren, stabilen Geist und einem großen Maß an vitaler Energie.
2. Der zweite Ast beschreibt die Ursachen und Arten von Ungleichgewicht. In der TTM werden die negativen Ursachen in zwei Kategorien unterteilt: primär und sekundär. Primäre Ursachen entstehen aus negativen und destruktiven emotionalen Zuständen und Ansichten, wie Wut und Aggression, Lust, ungesundes Anhaften (Begierde) und Ignoranz. Sekundäre Ursachen sind lang anhaltende, sich wiederholende Faktoren wie eine falsche Ernährung und Lebensweise , die Zeit (saisonale Ursachen) und Provokationen

Der zweite Baum ist der Baum der Diagnose und hat drei Äste:
1. Die Begutachtung: Der Patient wird genau beobachtet und aus seinem Verhalten und Aussehen erste Schlüsse gezogen; Urin-Analyse (z.B. Farbe, Dampf, Bläschen, Geruch, Sedimente, Öligkeit etc.).
2. Palpation, die Tastdiagnose: Hierbei werden die verschiedenen Pulse des Patienten ertastet; es werden zwei Hauptaspekte unterschieden: Palpation zur typologischen Bestimmung und die Palpation zur Untersuchung pathologischer Zustände.
3. Die Anamnese: Der Patient wird zu verschiedenen Aspekten seiner Lebensführung, Ernährung, unterschiedlichen Sinnesempfindungen, Befindlichkeiten etc. intensiv befragt.

Der dritte Baum ist der Baum der Behandlung und hat vier, nach der Termatradition fünf Äste, wobei die Behandlung nicht allein die Symptome, sondern auch die Ursachen behandeln soll:
1. Ernährung als die beste Behandlung
2. Lebensstil (Tagesablauf, Schlafenszeiten, Vorlieben, Abneigungen etc.)
3. Medikation: Die tibetische Pharmacopea verwendet Heilpflanzen, Mineralien und in geringem Maße auch tierische Substanzen zu Heilzwecken.
4. Äußere Therapien: Massage, Akupunktur, Moxibustion, Schröpfen; außerdem als zweitrangige Therapieformen: Kräuterbäder, Aderlass, Kompressen, Stocktherapie und „mongolische Moxibustion“.
5. Die Termatradition nennt zudem als fünften Ast die Behandlung mit Heilmantras



Energie

Der Terminus “Energie” bezeichnet eine dynamische Kraft, die als Quelle aller Existenz gilt. Im Körper ist sie das psycho-physische Prinzip der Vital-Kraft. Diese Energie geht aus den fünf Elementen Raum, Wind, Feuer, Wasser und Erde hervor. Die Qualität des Raumes ist die Leerheit und Potentialität, aus der alle Phänomene hervorgehen. Wind hat die Qualität Bewegung, Wachstum und Entwicklung. Feuer steht für die Eigenschaften Schnelligkeit und Hitze, die zur Reifung führt. Wasser hat die Qualität des Fließens und der Kohäsion. Erde schließlich steht für Festigkeit und Stabilität .

Gemäß der tibetischen Humorallehre gehen aus diesen fünf Elementen drei “Säfte” oder inneren Energien hervor:
1. Wind (tib. Lung): Entsteht aus den Elementen Raum und Wind; ist Bewegung und Aktivität; reguliert das Denken und Sprechen; steuert das Nervensystem, die Atmung und die Ausscheidung.
2. Galle (tib. Tripa): Entsteht aus Feuer; ist heiß und reguliert die Körperwärme; weitere körperliche Funktionen: Verdauung und Aufnahme von Nährstoffen, katabolische Funktionen, Hunger und Durst, Mut, Motivation und Vision.
3. Schleim (tib. Pekan): entsteht aus Erde und Wasser; ist von kalter Natur; Körperliche Funktionen: Kohäsion, Flüssigkeit, Struktureller Zusammenhang des Körpers, Körperflüssigkeiten, anabolische Funktionen, Schlaf, Geduld und Toleranz.

Wind gilt als neutral und hat die Eigenschaft, sich verstärkend auf die beiden anderen „Säfte“ auszuwirken. Galle ist heiß und Schleim ist kalt, d.h. sie wirken entgegengesetzt.

Der Körper ist gemäß der TTM und der tantrischen Lehren außerdem von einem System von 72000 feinstofflichen Kanälen (tsa) durchzogen, in dem sich die Winde oder Kräfte (lung) und Essenzen (thigle) befinden. Entlang der Körperachse vereinen sie sich zu drei großen Energiekanälen, die in der tantrischen Meditation erfahren werden können. Der rechte und der linke Energiekanal, in denen die durch Mutter und Vater vererbten weiblichen und männlichen Energien fließen, umwinden den zentralen Kanal, der für spirituelle Praktiken von überragender Bedeutung ist. Die Schnittpunkte dieser Energiekanäle werden als Chakras (khorlo) bezeichnet. Der Bestand des Körpers beruht auf den Kanälen, deren Funktion ihrerseits von den verschiedenen feinstofflichen Winden abhängt . Die Bewegung der inneren Energien ist mit dem Energiefluss und den Rhythmen der Außenwelt durch den Atem verbunden .

Das berühmte Tantra vom Rad der Zeit, Kalachakra , nennt in seiner Beschreibung der inneren Physiologie zwölf feinstoffliche Kanäle am Nabelchakra. Die Vitalenergien oder Atemzüge durchfließen die Kanäle als sechs Einatmungen und sechs Ausatmungen je abwechselnd zur linken und zur rechten Seite des Zentralkanals. In vierundzwanzig Stunden erfolgt zwölf mal ein Wechsel im Fluss dieser Energien, dem Kalachakra-Tantra zufolge alle 1800 Atemzüge (im vierundzwanzigstündigen Zyklus sind es insgesamt 21600 Atemzüge). Während jeder der zwölf Umkehrungen des Energieflusses durchlaufen 56,25 Atemzüge den Zentralkanal, im Zyklus von vierundzwanzig Stunden sind das 675 Atemzüge.

Dauer und Qualität eines Lebens sind abhängig von der Anzahl und der Qualität der Atemzüge. So kommt dem Atem in der tantrischen Praxis, wie auch in der Medizin ein wichtiger Stellenwert bei. Mit der „grobstofflichen Luft“, die wir atmen, sind die feinstofflichen Winde verbunden. Die spirituellen Yoga-Praktiken bestehen darin, die „karmischen Winde“ der geistigen Verblendung, die sich durch die Nebenkanäle bewegen, unter Kontrolle zu bringen. Durch Atemkontrolle und Atemanhaltungen werden diese Winde in den Zentralkanal überführt, dort gereinigt und in die so genannte Weisheits-Energie des gnostischen Gewahrseins umgewandelt . Durch Mantrarezitation, yogische Übungen und die Manipulation des Atems sollen die inneren und äußeren Energien transformiert und gelenkt werden, um psychophysische Disharmonien auszugleichen, d.h. Krankheiten aller Art zu heilen, oder spirituelle Verwirklichungen zu erlangen. Alle negativen Emotionen, Krankheiten und „Dämonen“ haben ihren Ursprung im verblendeten Bewusstsein; daher erfolgt ihre Befriedung auch über die Zähmung des Geistes. In den feinstofflichen Winden ist auch die Lebenskraft enthalten. Eine Stabilisierung dieser Lebenswinde hat eine Stabilisierung des Geistes zur Folge – ein Prinzip, das allen yogischen Praktiken zugrunde liegt.

Die inneren Winde und Energieflüsse werden zusammengefasst in den fünf individuellen Kräften, die mit den Elementen und den drei „Säften“ verbunden sind. Diese fünf Kräfte sind in der tantrischen Astrologie von Bedeutung. Zwei von ihnen spielen zudem in der Medizin eine Rolle:

- La, die Geisteskraft
- Sog, die Vitalkraft
- Lü, die physische Kraft
- Wan Thang, die Willenskraft
- Lungta, das Windpferd, das mit Glück und Erfolg in Verbindung gebracht wird .

Anhand von Berechnungen im Jahreshoroskop werden in der Astrologie Aussagen über die Beschaffenheit dieser Energien gemacht, indem die Kräfte des laufenden Jahres mit denen des Geburtshoroskopes verglichen werden. Zeigt sich dabei, dass die Lebenskräfte geschwächt sind, dann kann auf spezielle Rituale zurückgegriffen werden, mit deren Hilfe die Lebensspanne verlängert werden soll .

Sog, die Vitalenergie, bestimmt die Lebensdauer. Sie ist der „unzerstörbare Tropfen“ und der „lebenserhaltende Wind“ mit Sitz im Herzzentrum des feinstofflichen Körpers. Ist das Karma einer Existenz aufgebraucht, dann bleibt die Vitalenergie nach dem Tod im feinstofflichen Bardowesen, d.h. im Wesen des nachtodlichen Zwischenzustandes erhalten.

Das La, in der Tradition des Bön als Schattenseele bezeichnet, ist eine Psychoenergie, die mit der Geisteskraft und der psychischen Befindlichkeit zu tun hat. Ist die Lebenskraft geschwächt, dann kann es den Körper verlassen. Es kann sich verflüchtigen, umherirren oder von Dämonen geraubt werden, die es dann aufzehren. In solchen Fällen fühlt sich die Person leer, müde, erschöpft und wie hypnotisiert. Auch kann das La Ziel der Angriffe von Schwarzmagiern sein. Die Person stirbt dann innerhalb von sechs Monaten. Ist das La beschädigt, verloren gegangen oder geraubt worden, dann kann es mittels verschiedener Rituale zurückgeholt werden .


Schluss

Die traditionelle tibetische Medizin ist ein natürliches, holistisches Heilsystem, das auf einer umfassenden Philosophie und Kosmologie basiert, den ganzen Menschen in seine Betrachtungen einbezieht und sich der körperlichen, geistigen und spirituellen Bedürfnisse des Individuums annimmt. Heutzutage erlernen tibetische Ärzte neben der traditionellen tibetischen Medizin auch die westliche Medizin und verstehen es, letztere in die traditionelle Medizin zu integrieren. Auch im Westen gibt es ein wachsendes Interesse an der TTM als Ergänzung zur Schulmedizin. Die Ausbildungskurse der noch jungen Internationalen Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin (IATTM) erfahren einen regen Zulauf von Menschen, die in Heilberufen tätig sind, darunter auch viele Ärzte, während gleichzeitig auch auf Seite vieler Patienten ein großes Interesse besteht, „tibetisch“ behandelt zu werden. Hierbei mag sicherlich auch das Klischee eine Rolle spielen, das Tibet als ein Land der heiligen Wundertäter verklärt. Andererseits mag es der westlichen Medizin möglicher Weise auch zum Vorteil gereichen, einen Hauch der tiefen Menschlichkeit und des Geheimnisvollen jenes alten Medizinsystems zu integrieren, das so erfolgreich durch die Jahrtausende bis in unsere Gegenart bestehen konnte.


Quellen:
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1996 Die spirituellen Geheimnisse tibetischer Heilkunst. Frankfurt a.M.

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Jhampa Kelsang (Übers.)
1995 The Ambrosia Heart Tantra. Dharamsala

Lopön Tenzin Namdak / Karin Gungal
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1998 Dzogchen, der Weg des Lichts. München
2004 Geschichte und Kultur Tibets. Elmshorn

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2007 Von der Wirkungsmacht des erwachten Geistes – „magische“ Elemente des Vajrayana-Buddhismus. In: Lademann-Priemer, Gabriele et.al.: Alles fauler Zauber? Beiträge zur heutigen Attraktivität von Magie. Münster

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Schuhmann, Hans Wolfgang
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2002 Die heilende Kraft des Buddhismus. München

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http://www.shakyadorje.org/?q=History.html
http://www.men-tsee-khang.org/index.htm
http://www.trogawa.blogspot.com/

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