Mutter Natur

© Oliver Ohanecian

Natur - was soll das sein? Für viele ist es der Bereich der Welt, in dem Bäume gedeihen, Flüsse mäandern und Winde wehen, ohne auf Mauern und Menschen zu stoßen. Natur, das ist dort, wo sich außerhalb menschlicher Wohnstätten möglichst viel Flora und vielleicht sogar etwas Fauna zu pittoresken Szenerien zusammensetzt. Natur sind die Orte, an denen man sich von anderen Leuten und Notwendigkeiten des Alltags nicht gestört fühlt. Es sind die Orte, an denen die Winde der Fantasie wehen können, ohne auf lästige Begrenzungen zu stoßen.

"Eigentlich sehe ich mich als Naturmystikerin", erklärte mir Mitte der neunziger Jahre eine Frau aus meinem Bekanntenkreis, nennen wir sie Veronica, die sich, aus der Ökologie- und Frauenbewegung kommend, bereits seit Anfang der achtziger Jahre in Kreisen bewegt hatte, welche sich vorwiegend als naturreligiös begriffen. Die Menschen, so teilte sie mir häufig mit, lebten nicht länger im Einklang mit der Natur. Im Grunde seien sie eine regelrechte Bodenkrankheit, unter der Mutter Erde zu leiden habe. Besonders schien dies üblicherweise bei den Nachbarn ihrer aktuellen Wohnungen der Fall zu sein, die nach Ansicht Veronicas mal zu laut, mal zu spießig, mal zu sehr unterschwellig aggressiv, immer aber auf irgendeine Weise würdig waren, als "widerlich" bezeichnet zu werden. Sie waren eben in den Augen der Naturmystikerin nicht Teil der Natur, so schien es.

So pflegte die Naturmystikerin nach einem halben, spätestens jedoch nach etwa zwei Jahren ihre Wohnungen zu wechseln. Dies stets unter Verweis auf einen nomadischen Vorfahren, durch dessen Gene ein Hang zur Unruhe genauso schicksalhaft vorgegeben sei, wie eine tiefe Naturverbundenheit. Diese Natur, das waren in ihren Augen die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, die überall dort in stärkerem Maße präsent zu sein schienen, wo es eine hübsche Szenerie in der Landschaft gab. Um also den Unbilden der Stadt und ihren disharmonischen Nachbarn zu entfliehen, pflegte sie mit ihrem alten Renault verschiedene malerische Orte in den Feldern und Wäldern der näheren Umgebung, sowie allerlei "Kultplätze" in ganz Deutschland zu besuchen. Umgang pflegte sie hauptsächlich mit anderen Naturmystikern, die sich wie sie selbst in der Tradition weiser Frauen und Männer oder auch der Indianer und Schamanen stehend verstanden, sozusagen als Gemeinschaft der Naturverbundenen im Gegensatz zu den gewöhnlichen Menschen, die eben nicht Teil der Natur und daher widerlich waren.

Natur scheint im Erleben und Denken vieler Menschen oft etwas Abgespaltenes zu sein, das immer in einem Außenbereich liegt: Außerhalb ihrer Wohnstätten, außerhalb einer von ihnen definierten Gruppe, außerhalb ihres Schaffens und Tuns, außerhalb ihrer selbst. Tatsächlich unterscheiden sich Naturmystiker wie Veronica und Neuheiden jeder Couleur im Grunde oft nicht von anderen Zeitgenossen. Sie bewegen sich in der gleichen europäischen Denktradition. Der Begriff "Natur" wird umgangssprachlich heute in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Einerseits bezeichnet er den Zusammenhang des Seienden in der Welt und vor allem unserer Umwelt. Andererseits wird von der Natur einer Sache gesprochen, d.h. der Begriff bezeichnet die wesentlichen Eigenschaften einer Sache.

Der Ursprung des Begriffes Natur liegt wie so vieles in der europäischen Kultur in Griechenland. "Natur", auf griechisch "fýsis", leitet sich ab aus dem Verb "fýein", was übersetzt werden kann mit "hervorgebracht, werden, wachsen". Die Physis ist somit der Bereich dessen, was von selbst ist und in sich selbst den Anfang von Veränderung und Bestand trägt. Das bedeutet, dass die Physis eines Dinges das ist, was dieses Ding von sich aus ist. Die beiden heutigen Bedeutungen des Begriffes "Natur" fallen bei den Griechen zusammen: Natur ist das, was ein Ding an sich selbst ist, und Natur ist der Zusammenhang der Dinge, die von sich aus sind.

In der ersten systematischen Naturphilosophie, der Physik des Aristoteles, wird der Natur als dem Bereich dessen, was von selbst ist, die Technik als Bereich dessen, was der Mensch hervorgebracht hat, gegenüber gestellt. Der Geist als das geistige Leben der Wesen, also der Bereich ihrer Wahrnehmungen, Gefühle, Wünsche, Gedanken und Absichten, gehört zur Natur.

Aristoteles unterscheidet vier Arten von Ursachen: die Form (eidos) und die Materie (hýle) eines Dinges, den Ursprung einer Veränderung, insbesondere einer Bewegung, und das Ziel oder den Zweck (télos) einer Veränderung. Innerhalb der Natur hat jedes Ding eine Form. Form ist dabei insofern etwas Geistiges, als die Seele eines Wesens sie von dem betreffenden Ding aufnimmt. Die Seele verfügt dann über das Ding als Begriff. So ist etwa die Form eines Steines im Stein und als Begriff "Stein" in der Seele. Auf dieser Grundlage gibt es dann keinen Gegensatz zwischen Natur und Geist, sondern einen Übergang von unbelebter Materie über Pflanzen und Tiere hin zu denkenden Wesen.

Jede Veränderung innerhalb dieses natürlichen Gefüges hat Aristoteles zufolge einen Ursprung, sondern ist außerdem auf einen Ziel oder einen Zweck gerichtet. Aus diesem Grunde fügt sich Aristoteles zufolge das Handeln von Lebewesen aufgrund von Wünschen und Begierden, das absichtsvolle Handeln denkender Wesen eingeschlossen, in die Natur ein.

Ein Gegensatz zwischen den Dingen der Natur (fýsis) und den Dingen der Kunst und Technik (techné) besteht darin, dass die Formen der Produkte der Technik sich zunächst im Geiste des Herstellenden befinden und der Zweck der Veränderung vom Herstellenden gesetzt wird und nicht dem Ding als solchem entspringt. Allerdings gehört die Absicht, etwas mit dem Einsatz von Technik herzustellen, zur Natur des Menschen, d.h. trotz des grundlegenden Unterschiedes dieser beiden Kategorien vollenden die Produkte der Technik doch das, was in der Natur angelegt ist.

Im christlichen Mittelalter erfuhr der aristotelische Naturbegriff eine wichtige Änderung: Die Natur ist nicht aus sich selbst, sondern von Gott geschaffen. Verbunden mit dieser Veränderung waren Gedanken zur Absolutheit Gottes, denen zufolge Gott aus absoluter, ungebundener Macht heraus handeln kann, ohne an Prinzipien gebunden zu sein. Durch dieses Denken verlor der aristotelische Naturbegriff seine Tragfähigkeit, denn wenn Gott aus absoluter Macht heraus handeln kann, dann kann das Vertrauen auf eine sinnvolle Ordnung der Natur, in die der Mensch integriert ist, zumindest erschüttert werden. Aus dieser Änderung des Naturverständnisses ging der neuzeitliche Naturbegriff hervor, der bis heute für die Naturwissenschaften bestimmend ist.

Im siebzehnten Jahrhundert wurde durch René Descartes ein Modell formuliert, das das Naturverständnis der Wissenschaft bis heute bestimmt. Descartes sah Natur als einen Bereich des räumlich und zeitlich Ausgedehnten, der auch gekennzeichnet ist durch Bewegung. An Stelle der vier aristotelischen Ursachen erkennt er nur noch den Ursprung von Bewegung als Ursache an. Regelmäßigkeit wird nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eines Zieles betrachtet, vielmehr erscheint Bewegung selbst als Gesetzmäßigkeit. Die einzelnen Bewegungen sind durch andere Bewegungen nach Gesetzen determiniert, die in der Sprache der Mathematik ausgedrückt werden können. Was nach Aristoteles für die Produkte der Technik gilt, das überträgt Descartes auf die Natur insgesamt: Ihr ist keinerlei Ziel und Zweck immanent.

Descartes kontrastierte zu dem Bereich der Ausdehnung, der res extensa, das Denken, den Bereich der res cogitans, als einen eigenständigen Seinsbereich. So ist der Mensch zwar an die Natur gebunden und muss zu seiner Selbsterhaltung und Selbstbehauptung handelnd in sie eingreifen. Als denkendes Wesen jedoch gehört er einem von der Natur unabhängigen Daseinsbereich des Geistigen an. So dient Naturwissenschaft nicht nur der Erkenntnis von der Natur, sondern sie die der menschlichen Selbstbehauptung in der Natur.

Kommen wir also zurück zu Veronica und ihren naturmystischen Freunden. Ihre Form der Mystik schien eine Kritik an einer Gesellschaft auszudrücken, die ihnen naturfern erschien. Es war oft die Rede von einer technokratischen Gesellschaft, die in ihrer Verblendung die Natur als Bereich des Heiligen entzaubert habe. Und doch schienen sich diese Mystiker von den kritisierten Formen des Denkens nicht zu entfernen. Vielmehr wurde die res extensa durch Ausschmückung mit hausgestrickten Göttern und Geistern ein wenig umdekoriert. Wie ein Uhrwerk mit Blumendekor und Stahlrohre mit Häkeldeckchen.

Wenn ich bei strömendem Regen das Haus verlasse, dann fällt mir auf, dass er in der Stadt genauso nass ist und strömt wie in Wäldern, Feldern und Wiesen. Auch in Häuserschluchten weht der Wind. Auch in Fußgängerzonen brennt die Sonne. Welcher Art sind mystische Erkenntnisse, die Natur lediglich in vermeintlich unberührten Orten finden können? Und welcher Art sind die damit verbundenen Götter, die ihre Verehrer dazu verführen, durch einen Naturtourismus einen Beitrag zur Maschinerie der Zerstörung zu leisten? Vor allem aber: Was ist das für ein Naturbegriff, der begrenzt ist auf romantischen Pflanzenwuchs, jedoch die Natur nicht im Mitmenschen zu erkennen vermag?

Oft macht es den Anschein, als würde in manch einer naturmystischen Betrachtung unserer Gegenwart die cartesianische Sicht auf eigentümliche Weise mit Vorstellungen des christlichen Mittelalters kombiniert. Da wird dann eben eine Schöpfergottheit, umgeben von allerlei Naturgeistern, in der res extensa gedacht, die jedoch von der res cogitans getrennt bleibt. Man kann vermuten, dass dies der Grund ist für die beliebte antiintellektuelle Gefühligkeit, die so eng an das geknüpft zu sein scheint, was sich postmoderne Stadtmenschen gerne unter Natur und Naturreligion vorstellen. Will man zur Natur hingelangen und göttliche Kräfte in ihr entdecken, so heißt dies wohl den getrennt davon existierenden Bereich der Verstandeskraft und der technokratischen Sichtweisen auf die heilige Natur zu verlassen - und doch verlässt ihn gerade deshalb nicht, weil man einen Teil der eigenen Natur weiterhin abspaltet. Und so entstehen wunderbare Geschichten, die das Leben letztlich sehr durchschnittlichen Menschen auf den Leib schreibt: Von der heidnischen Hohepriesterin mit tiefem Naturbezug, die ungeschminkt niemals das Haus verlassen mag; von den neuen Hexen, die sich im Besitz tiefer Mysterien der Natur wähnen und diese Bindung dadurch feiern, dass sie mit Hilfe einer leistungsstarken Stereoanlage das Objekt ihrer Verehrung in einem alten Steinbruch lautstark mit Technomusik beschallen; oder von solchen Naturmystikern, zu deren Image die mit Hilfe von viel Chemie z.B. rot oder lila gefärbten Haare gehören. Der Anekdoten sind viele.

Sicher, es gibt Ausnahmen. Das cartesianische Modell zu verlassen und eine Sichtweise auf die Natur zu entwickeln und konsequent zu leben, die z.B.der aristotelischen entspricht, erfordert viel Selbstkritik und Disziplin. Ich befürchte aber, die Bequemlichkeit ist ein Dämon von großer Macht. Und ich befürchte, dass die meisten Menschen unserer Gesellschaft ihm unterliegen. Was bleibt, sind die Wellness-Programme "Spiritualität", "Naturreligion" und "Harmonie", die zwar nichts verändern, jedoch schöne Gefühle verursachen und das unbequeme Gewissen betäuben.

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