Das Rad der Zeit

© Oliver Ohanecian

Wir sind Wesen der Zeit. Wir werden geboren, wir reifen und wir vergehen als Teil des Wellenspieles des Entstehens und Vergehens der Erscheinungen in den Tiefen des Raumes: Zeit. Üblicherweise glauben viele von uns ganz genau zu wissen, was Zeit ist - und verweisen dann auf ihre Armbanduhr und die menschliche Erfahrung der Abfolge von Tag und Nacht. Den Philosophen und Wissenschaftlern stellt es sich allerdings weit weniger einfach dar. Und ebenso wenig den Mystikern und Magiern.


Der Wunsch nach Dauer

Wir sind Wesen der Zeit. In einer fortwährenden Abfolge von Bewusstseinsmomenten werden wir geboren, reifen, sterben und werden wieder geboren – jeden Tag, jeden Augenblick, mit jedem Atemzug und jedem Herzschlag. Dies ist die grundlegende Wahrheit unseres Da-Seins. Eine Wahrheit jedoch, der die Kultur der Postmoderne gerne eine ihr eigene Illusion der Dauer entgegenstellt. Entfremdet von uns selbst und unserer wirklichen Natur suchen wir nun vergeblich Dauer nicht nur im Ansammeln von Besitztümern, sondern immer öfter in Schönheitsoperationen und Verjüngungsdiäten. Die Werbung verspricht uns Dauer durch die neuesten Beauty- und Wellness-Trends, durch Halbfettmargarine, Yoghurtkulturen und Butoxspritzen, die uns noch jugendlicher, frischer und allgemein vitaler erscheinen lassen sollen.

Eingebettet in diesen Wunsch nach Dauer sitzt eine Gier, die uns treibt: Wir wollen mehr erleben, suchen den neuesten Kick, den aktuellsten Trend, die beste Party, das coolste Event. Wir suchen Bühnen, auf denen wir unsere Erfolge in der Suche nach Dauer präsentieren und messen können.

Auf diese Weise ist das Denken und die Wahrnehmung vieler Menschen auf Bilder und Bedürfnisse gerichtet, die von Werbestrategen ersonnen und von den Medien verbreitet wurden. Sie verbringen ihr Leben in einer Welt bunter Bilder und sind getrieben von einer dumpfen Furcht vor der wirklichen Welt. Diese Furcht äußert sich als Angst vor Alter und Tod, vor dem Fremden, vor Veränderung. Diese Welt der bunten Bilder ist eine Welt der Stagnation und der Entfremdung. Gefangen in dualistischen Zerrbildern wähnen wir uns zweigeteilt in herrschenden Geist und dienenden Körper. Aus der lebendigen Schönheit des vergänglichen Körpers machen wir eine Fleischskulptur und Anziehpuppe, die wir durch Körpermodifikation unseren Idealen anzupassen und dauerhaft zu machen versuchen. All diese Bemühungen sind jedoch vergebens. Lediglich ein oberflächliches Hinauszögern des Unvermeidlichen ist uns begrenzt möglich. Wir erschaffen dicke Schichten Makulatur, die jedoch immer nur notdürftig die inneren und äußeren Veränderungen zu bedecken vermögen.


Ein Leben zum Tod

Das war nicht immer so. Unsere Vorfahren lebten mit dem Tod und also mit der Zeitlichkeit. Vor etwa vier bis fünf Generationen hatten die Menschen in Deutschland statistisch eine Chance von 2:1, das erste Lebensjahr zu überleben und ihre Chance, neun Jahre oder älter zu werden, stand 1:1. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 35 Jahren. Gestorben wurde damals dauernd. So wurde in früheren Generationen das Leben sehr viel stärker, als dies heute der Fall ist, in seiner Perspektive auf den Tod hin betrachtet, was seinen Niederschlag u.a. in Literatur, Dichtung, bildender Kunst oder auch in Choraltexten von Kirchengesangbüchern fand.

Diese Perspektive des Lebens auf den Tod hin scheint den Kulturen der Postmoderne weitestgehend abhanden gekommen zu sein. Viel haben wir sicherlich gewonnen: Die Welt ist vielen von uns kein Jammertal mehr. Der Tod eines Kindes ist heute etwas Ungewöhnliches und Widernatürliches. Wir haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 80 Jahren und durchschnittlich tritt im engeren Familienkreis nur noch alle 15-20 Jahre ein Todesfall ein. Unsere allgemeine Lebensqualität ist geprägt vom Überfluss. Wir verfügen über eine ausgezeichnete medizinische Versorgung, ausreichend Nahrung und ein übermäßiges Angebot an Genussmitteln und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.

Mit all diesen Veränderungen hat jedoch auch der Wahn der Machbarkeit Einzug gehalten. An die Stelle eines Tiefenblickes, wie er durch das Bewusstsein der Vergänglichkeit entstehen kann, ist die Faszination für den oberflächlichen Glanz getreten. Reichtum, Statussymbole und Schönheit, Aktivität und Lustgefühl sind das Machbare. Vergänglichkeit aber ist das unvermeidliche Andere, das Angst erzeugt.


Spiritualität als Wellness-Programm

Wir wollen schön sein, wir wollen Spaß haben und wenn uns das auszehrt, dann wollen wir ein regenerierendes Wellness-Programm. Was wir nicht wollen, das ist die Welt, wie sie ist, oder die Zeit, die uns als Countdown unserer persönlichen Zeit vergeht. Unter anderem drückt sich dies auch in diversen neureligiösen Bewegungen aus, die selten etwas anderes, als ein spirituelles oder besser: spiritualisierendes Wohlfühlprogramm darstellen, in dem Tiefe und Einsicht zwar nicht vorhanden sind, jedoch mit bunten Bildern und interessanten Worten simuliert werden. Diese Art „Spiritualität“ wird meist individuell, dem ganz persönlichen Appetit folgend, am kalten Buffet religiöser Versatzstücke und hohler esoterischer Phrasen kreiert, wie es vom Esoterikmarkt bereitgestellt wird. Was dabei dann etwas weniger schmackhaft erscheint, das wird getrost beiseite geschoben. Spiritualität soll ja immerhin Spaß machen, Wohlgefühl erzeugen und das Ego stärken.

So ist der Ort, an dem sich diese Form der Spiritualität abspielt, die Fantasie.
Es ist ein Spiel mit Bildern und Worten, die einem durchschnittlichen Leben und Denken einen mystischeren und tieferen Anschein verleihen soll. Verborgen unter den Bildern jedoch bleiben die gleichen Strukturen, das gleiche Denken, die gleichen Ängste, der gleiche Mensch. Die allgegenwärtige dualistische Abspaltung des Individuums von der Welt bleibt hierbei erhalten oder wird gar vertieft.


Tantrische Zeitlehren

Ein anderes Verständnis des Menschen, seiner Eingliederung in die Welt und der Zeit finden wir im Buddhismus und dort ganz speziell im Kalachakra-Tantra. „Kala“ bedeutet Zeit und „chakra“ bedeutet Rad oder Kreis. Es ist also das Tantra vom Rad der Zeit. Dem Samputa-Tantra zufolge werden vier buddhistische Tantra-Klassen unterschieden, nämlich Handlung (skt. kriyâ), Durchführung (skt. caryâ), Yoga und Höchstes-Yoga (skt. anuttarayoga). Das Kalachakra-Tantra gehört zur Klasse der Anuttarayoga-Tantras.

Das Tantra vom Rad der Zeit präsentiert drei Aspekte oder drei verschiedene Arten von Zeitzyklen: äußeres, inneres und alternatives Kalachakra. Im äußeren Kalachakra werden die äußeren Zeitzyklen behandelt, d.h. die Welt, die vom Geist empfindender Wesen als Außenwelt wahrgenommen wird. Hierbei bezeichnet Kala ein Jahr bzw. die Tage eines Kalenderjahres. Symbolisiert wird dieser Jahreszyklus durch ein Rad.

Der Buddhismus definiert Zeit als Maß der Veränderung. So ist etwa ein Monat das Maß des Wechsels, der äußerlich durch den Umlauf des Mondes um die Erde entsteht oder innerlich z.B. bei der Frau, wenn sie von einer Menstruation zur nächsten geht. Solche Ereignisse sind insofern zyklisch, als sich in ihnen Muster wiederholen, wenngleich sie auch nicht vollkommen identisch sind. Das äußere Universum durchläuft kosmische, astronomische, astrologische und historische Zyklen, während auf einer inneren Ebene der Körper durch physiologische Zyklen wandert, die ihrerseits mentale und emotionale Zyklen hervorbringen. Die Strukturen der äußeren und inneren Zeitzyklen sind analog. Die Gesetze, die das Universum regieren, betreffen gleichermaßen auch die Welt der kleinsten Teilchen, unseren Körper und unsere Lebenserfahrungen.

So beschreibt das äußere Kalachakra die Elemente des Universums und ihre wechselseitigen, dynamischen Beziehungen zueinander. Es legt die Kosmologie, den Zeitverlauf und die astrologischen Berechnungen dar.

Inneres Kalachakra ist das, was durch das Bewusstsein als Inneres erfasst wird. Dargestellt wird dieses innere psycho-physische Universum hierbei in Form einer spezifischen inneren Physiologie von Chakren, Energiekanälen und Energiewinden. In diesem Fall bezieht sich Kala auf zwölf feinstoffliche Kanäle am Nabelchakra und auf die Vitalenergien oder Atemzüge, die als sechs Einatmungen und sechs Ausatmungen je abwechselnd auf der linken und der rechten Seite durch diese Kanäle hindurch fließen. Zusätzlich zu diesen Kanälen wird außerdem ein Zentralkanal genannt, in dem sich die Energien vereinigen, d.h. er ist der Ort der spirituellen Entwicklungen und der inneren Alchemie. In vierundzwanzig Stunden erfolgt zwölf mal ein Wechsel im Fluss dieser Energien, dem Kalachakra-Tantra zufolge alle 1800 Atemzüge, derer es in einem vierundzwanzigstündigen Zyklus 21600 sind. Während jeder der zwölf Umkehrungen des Energieflusses durchlaufen 56,25 Atemzüge den Zentralkanal, im Zyklus von vierundzwanzig Stunden sind das 675 Atemzüge. Der Begriff „Rad“ bezeichnet im inneren Kalachakra die zwölf Umkehrungen des Energieflusses und die 21600 Atemzüge eines Tageszyklus.

Der Ausdruck „alternatives Kalachakra“ schließlich bezeichnet die stufenweise Abfolge von meditativen Praktiken des Anuttarayoga-Tantra, mit deren Hilfe die Befreiung von den durch die Zeit aufgezwungenen Grenzen, also den äußeren und inneren Zeitzyklen, erfolgt. Auf der höchsten Stufe dieser Meditationen bezeichnet „Zeit“ einen Zustand unwandelbarer Glückseligkeit und „Rad“ die leere Form der Erscheinung.

Ziel buddhistischer Praxis ist die Beendigung des Leidens. Von den Tantras heißt es, dass die in ihnen präsentierten Methoden besonders schnell zu diesem Ziel führen: In nur einem Leben sei es möglich, die vollkommene Erleuchtung zu erlangen. Zentral hierbei ist ein Zustand der Glückseligkeit, der in den Praktizierenden hervorgerufen wird.

Die unwandelbare Glückseligkeit, von der im Kalachakra-System die Rede ist, wirkt als Mittel zur vollständigen Auflösung des Bereiches der Materie. Jeder Atemzug entspricht hierbei einer bestimmten Energie und wir machen im Laufe eines Tages 21600 Atemzüge. So durchfließen uns 21600 verschiedene Energien. Wird eine dieser Vitalenergien transformiert, so wird damit einer der 21600 materiellen Bestandteile des Körpers aufgehoben. Und eine derartige Beendigung entspricht einer großen Glückseligkeit. Dieser Prozess bedeutet die Aufhebung der Energien des Karma. Werden diese Energien zum Erliegen gebracht, so bedeutet dies die Auflösung der 21600 materiellen Bestandteile und die Verwirklichung von 21600 Arten der Glückseligkeit.


Die Zyklen der Zeit und ihre Überwindung

Das Kalachakra-Tantra befasst sich also mit Zeitzyklen, von denen es drei Arten präsentiert. Die äußeren und inneren Zyklen handeln von Zeit, wie sie uns allen geläufig ist, d.h. den äußeren Zeitabläufen und den inneren, während die alternativen Zyklen aus Praktiken bestehen, mit denen man Befreiung von diesen beiden erlangt. Die äußeren und inneren Zeitzyklen behandeln Samsara, die Welt der Illusion, jenen mit Problemen und Nöten überfrachteten Ort der unkontrollierbaren, immer wieder neu auftretenden Wiedergeburt.

Dieser ewige Kreislauf wird in Gang gehalten durch die Energieimpulse des Karma oder, wie es das Kalachakra-Tantra formuliert, durch die „Winde des Karma“. Der Begriff „Karma“ bezeichnet ein Prinzip, dass dem Geist verbunden ist. Es handelt sich dabei um eine Kraft, die aus der Verwirrung des Geistes hinsichtlich des Wesens der Welt entsteht. Die Verwirrung besteht hierbei in der Vorstellung, die Erscheinungen der Welt besäßen eine feste und eigenständige Identität, die ihnen innewohne. Aus dieser Vorstellung heraus entstehen Anhaftung, Hass und verbohrte Dummheit, mit denen wir auf diese vermeintliche Getrenntheit und Eigenständigkeit der Erscheinungen reagieren.

Die körperlichen, sprachlichen und geistigen Handlungen, die aus dieser Denkweise entstehen, bauen karmische Potenziale und Gewohnheiten auf. Diese „karmischen Samen“ reifen dann unter geeigneten Umständen zu zwingenden Impulsen heran, die uns Taten wiederholen lassen oder uns in Situationen führen, in denen wir ähnlichen Handlungen ausgesetzt sind. Den tantrischen Lehren zufolge unterliegen auch den physikalischen Gesetzen des Universums solche Impulse. Unter dem Einfluss dieser Impulse entfaltet sich das Universum mit seiner Vielzahl an Lebensformen und Umwelten, in denen wir wiedergeboren werden.

Das eigentliche Wesen der Welt ist die Leerheit. Die Erscheinungen der Welt sind leer von inhärenter, also ihnen innewohnender Eigenexistenz. Sie sind zusammengesetzt aus einer Vielzahl von Faktoren, aus deren dynamischen Zusammenspiel die einzelnen Erscheinungen auftauchen und in die sie auch wieder verschwinden. Die stetig sich wandelnde Erscheinungswelt gleicht dem Spiel der Wellen auf einer Wasserfläche oder den Wolken in der Weite des Himmelraumes.

Die Befreiung von der Zeit bedeutet nicht die Beendigung der Existenz von Zeit, sondern es bedeutet die Befreiung von der geistigen Verwirrung, die Karma hervorbringt, durch das wir dem Wüten der Zeit ausgeliefert sind. Eine Befreiung in diesem Sinne heißt, dass eine nachteilige Beeinflussung durch periodisch wiederkehrende äußere Ereignisse endet. Gleichzeitig schließlich mit einem völligen Verstehen der Wirklichkeit, so heißt es über diese tantrische Praxis, wird die Fähigkeit erlangt, über alle zeitlichen Begrenzungen hinweg Zyklen von Ausformungen hervorzubringen, die anderen von Nutzen sind.

Es geht also hierbei auch darum, die Grenzen, die wir uns selbst und anderen durch unser begrenztes und begrenzendes Denken errichten, zu überwinden. Und das nun führt mich zurück zur Wohlfühl-Spiritualität. Wenn Spiritualität begrenzte Dinge der Zeit, wie etwa die Idee des Selbst, das schöne Gefühl, exotisch klingende Worte oder ein fantasievolles Ambiente, ins Zentrum ihres Strebens rückt, wo anders soll sie dann hinführen, als nur zu mehr Begrenzung?


Leseempfehlungen:

Berzin, Alexander: Kalachakra – das Rad der Zeit. Bern, München, Wien 2002
Henss, Michael: Kalachakra. Ulm 1998
Lammer, Kerstin: Trauer verstehen. Neukirchen-Vluyn 2003










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