Buddhistisches Tantra - der Pfad der Transformation
© Oliver Ohanecian
Seit undenklichen Zeiten
Verleihen die Wurzeln des Baumes der Un-Kenntnis,
Wohl gewässert vom Monsun der Gewohnheiten,
Wachstum den Zweigen des Truges.
Heute habe ich den Baum der Un-Kenntnis gefällt,
Meine Axt war die Unterweisung des Lehrers:
Höre, denke darüber nach und übe dich darin!
So singt der Mahasiddha Caurangipa und beschreibt damit sowohl den gewöhnlichen Zustand des Menschen aus tantrischer Sicht, wie auch den Ausweg aus diesem Dilemma. Anders ausgedrückt: Mit seinen eingefahrenen Denk- und Handlungsgewohnheiten erschafft sich der Mensch ein nahezu undurchdringliches Dickicht wahnhafter Vorstellungen über sich und die Welt, in dem er gefangen ist. Es gibt jedoch ein Entrinnen aus den selbsttrügerischen Begrenzungen, hin zum eigentlichen Wesen der Welt.
Der genannte Sanskrit-Terminus "Mahasiddha" bedeutet "großer Adept" und bezeichnet die "großen Verwirklicher" der tantrischen Lehren. Ein solcher Adept ist ein Individuum, das durch das sogenannte Sadhana, d.h. eine spirituelle und psychische Disziplin, Siddhis verwirklicht hat, das bedeutet psychische und spirituelle Kräfte. Die Mahasiddhas des alten Indien hatten mit den Konventionen des klösterlichen Lebens ihrer Zeit gebrochen. Sie ließen die Klöster hinter sich und praktizierten in Höhlen und Wäldern, auf Leichenverbrennungsplätzen und in den nordindischen Dörfern. Dargelegt werden die von den Mahasiddhas praktizierten Methoden in einer buddhistischen Schriftengattung, den sogenannten Tantras.
Traditionen, Sichtweisen und Methoden
Zwischen dem 3. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung kam es innerhalb des Buddhismus zur Entwicklung eines neuen Lehrzweiges, der sich schließlich als lebendige und ungebrochene magisch-mystische Tradition in den vergangenen Jahrzehnten unter Bezeichnungen wie Vajrayana, "Diamantenfahrzeug", Tantrayana, "Tantrafahrzeug" oder auch als Guhyamantra, das "Geheime Mantra" über die ganze Welt verbreitet hat. Philosophisch basiert dieses System auf den in den Mahayana-Sutras dargelegten und in den philosophischen Schulen des Madhyamaka und Cittamatra systematisierten Einsichten, doch hinsichtlich ihrer Meditations- und Praxismethoden unterscheidet es sich radikal von den Methoden anderer Lehrzweige.
Das Klischee zeigt den Buddhismus als weltverneinende Mönchsreligion, in der alle starken Emotionen aufgelöst oder verdrängt werden. Dieses Klischee geht - wie dies wohl im Wesen des Klischees liegt - an der Wirklichkeit des Buddhismus vorbei. Grundsätzlich werden im Buddhismus drei Yanas, d.h. Fahrzeuge, und drei Ebenen der Praxis und damit verbundene Sichtweisen unterschieden: Hinayana, Mahayana und Vajrayana, sowie die Praxisebenen Sutra (im Hinayana und Mahayana), Tantra und Dzogchen oder Mahamudra. Was sie alle vereint ist das Streben nach der Buddhaschaft. Was genau dies jedoch sei und wie man es erreichen könne, darin unterscheiden sie sich - zumindest bei oberflächlicher Betrachtung - scheinbar sehr. "Buddha" bedeutet wörtlich "der Erwachte". Dieses Erwachen ist eine vollkommene Einsicht in das wahre Wesen aller Erscheinungen, also ein Prozess, der sich im Bewusstsein vollzieht. Die Methoden beziehen sich daher darauf, die Achtsamkeit auf bestimmte Aspekte des erlebten Seins und des beobachtenden Bewusstseins selbst zu richten, um so dieses Erwachen einzuleiten.
Hinayana bedeutet "Kleines Fahrzeug" und ist heute vor allem vertreten durch den Theravada-Buddhismus (dessen Anhänger den Ausdruck "Hinayana" allerdings gar nicht mögen). Sein Ziel ist die persönliche Befreiung des Praktizierenden aus dem Daseinskreislauf. Die Welt wird hier als leidhaft erfahren, der Grund dafür ist Karma und der verblendete, also der nichterkennende Geist. Die Methode ist Entsagung der leidhaften Welt und Kontrolle des eigenen Verhaltens, so dass für andere keine Probleme verursacht werden, d.h. im Idealfall Rückzug aus der Welt in die klösterliche Gemeinschaft und strenge Observanz des Vinaya, d.h. hunderter Regeln und Gelübte, die das monastische Leben strukturieren. Die Gelübte gelten für das gegenwärtige Leben und enden mit dem Tod. Die endgültige Befreiung liegt im Nirvana, d.h. im Erlöschen aller persönlichen Daseinsimpulse. Dargelegt sind die Lehren des Hinayana in den Sutras des so genannten Pali-Kanons.
Im Mahayana kommt dem Prinzip der Motivation eine besondere Bedeutung bei. Regeln gelten zwar als nützlich, um negative Ursachen zu beenden, aber um wirklich gute Wirkungen zu erzielen, muss die zugrunde liegende Absicht gut sein. Außerdem tritt im Mahayana an die Stelle der persönlichen Befreiung das Bodhisattva-Ideal. Der Gedanke der persönlichen Befreiung gilt hier als Ausdruck einer weiterhin bestehenden Anhaftung an die Vorstellung eines unabhängig existierenden Selbst. Der Bodhisattva hingegen entwickelt seine geistigen Fähigkeiten, um gleichermaßen für alle Wesen von Nutzen zu sein, und verzichtet aus dem gleichen Grund auf die finale Befreiung im Nirvana, dem Erlöschen. Er bleibt also in der Welt, sei es in manifester oder auch in subtiler Form, um anderen, die nicht seine Einsicht und seine Fähigkeiten besitzen, helfen zu können, so zu werden, wie er selbst, d.h. das ihnen innewohnende Potenzial zu entfalten.
So zu werden wie er selbst? An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem Geschlecht auf. Bodhisattvas müssen nicht notgedrungen männlich sein. Prominentes Beispiel für einen weiblichen Bodhisattva und Buddha ist die berühmte Göttin Tara. In ihrem Mythos wird berichtet, dass sie das Gelübte abgelegt habe, in weiblicher Erscheinung zum Wohle aller empfinden Wesen zu wirken --- womit sie sich von Aussagen des alten Buddhismus distanziert, denen zufolge Erleuchtung nicht von Frauen zu erlangen sei. Beschritten wird der Bodhisattva-Pfad mit dem Bodhisattvagelübte. Dieses Gelübte gilt bis zur Erlangung des Zustandes der Buddhaschaft, also weit über das gegenwärtige Leben hinaus.
Die Hauptprinzipien des Mahayana sind die Schulung von Intelligenz und Disziplin und die Kultivierung von Bodhicitta, d.h. die Überprüfung der Motivation bei allem, was getan wird. Die wichtigste Textgattung des Mahayana sind die Sutras, in denen die philosophischen Einsichten und kontemplativen Methoden dargelegt werden. Zu großer Berühmtheit sind vor allem die Prajnaparamita-Sutras gelangt, d.h. die Sutras der Transzendenten Weisheit. Die in den Sutras präsentierte Praxisebene umfasst Entsagung, Entwicklung der tieferen Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit und Anwendung des Bodhisattva-Ideals.
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Grundprinzipien des Tantra
Vajrayana, das "diamantene Fahrzeug", bezeichnet den Weg der tantrischen Lehren des Buddhismus. Der Begriff "Tantra" ist allerdings heutzutage nicht ganz unproblematisch. Leider wird er meist mit spirituell verbrämtem sexuellem Hedonismus, den sich vorwiegend westliche Autoren zurecht fantasieren, gleich gesetzt. Es wäre nur wünschenswert, dass sich eines Tages vielleicht doch herumspricht, dass Tantra, wie es vom heutigen Esoterikmarkt hervorgebracht wird, im Großen und Ganzen nicht mehr ist, als eine groteske Verzerrung durch zynische Geschäftemacher, die meilenweit an der Sache vorbeigeht und lediglich Verwirrung stiftet. Die albernen Sexualratgeber, die in jeder kleinen Esoterikbuchhandlung die Regale füllen, haben in etwa so viel mit Tantra zu tun, wie Frolic mit Haute Cuisine.
Der Sanskrit-Terminus "Tantra" bedeutet wörtlich "Faden" oder "Gewebe" im Sinne von Kontinuität. Tantra arbeitet mit Energie. Es werden hier drei nicht voneinander getrennte (!) Ebenen der Existenz unterschieden: Der Körper, die Stimme und der Geist. Sutra ist vor allem mit der Ebene des Körpers verbunden. Tantra hingegen bezieht sich vorwiegend auf die Dimension der Stimme, die mit dem Atem und darüber mit dem Prana, der subtilen Energie, verbunden ist. Außerdem repräsentiert die Stimme aber natürlich auch Klang, der seinerseits verknüpft ist mit Mantra und dieses wiederum mit Silben. Die verschiedenen Silben symbolisieren verschiedene Formen von Energie. So bilden die Silben eines Mantras das spezifische Muster der damit verbundenen tantrischen Gottheit. Das Mantra ist diese Gottheit in Form von Klang und die Gottheit ist ein energetischer Aspekt der Wirklichkeit im tiefsten, innersten Sinne.
Im Buddhismus werden verschiedene Formen von Tantra hinsichtlich der in ihnen gelehrten Methoden unterschieden. Die gebräuchlichste Unterteilung ist die in niederes und höheres Tantra. Grundsätzlich gilt für alle Tantras, dass ihnen die Energie und alles, was die menschliche Existenz ausmacht, als Wert erscheint. Niederes oder auch äußeres Tantra ist der Weg der Reinigung von verzerrenden und trennenden Konzepten und Geistesfunktionen. Hierbei werden die Adepten durch verschiedene Observanzen, z.B. Beachtung besonderer Reinheits- und Speisegebote, und Rituale darauf vorbereitet, die Weisheit der jeweiligen Gottheiten - am bekanntesten sind Tara und Avalokiteshvara - aufzunehmen, d.h. in sich zu verwirklichen. Der eigentliche Weg der Transformation ist das höhere Tantra, Anuttaratantra lautet der Sanskrit-Terminus. Hier werden die Leidenschaften in Weisheit transformiert, ein Prozess, in dem alle konzeptuellen Begrenzungen durchbrochen werden.
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Dualismus und Nicht-Duale Sicht
Was sind das für Begrenzungen? Das gewöhnliche Denken ist geprägt durch dualistische Annahmen. Im westlichen Denken etwa wird der Körper-Geist Dualismus mit seiner negativen Bewertung des Körpers bis in unsere Gegenwart mehr oder weniger als selbstverständlich hingenommen. Versuche unterschiedlicher neuer esoterischer Gruppierungen zur Aufhebung dieses Dualismus verlieren sich meist in der für postmoderne Esoterik so typischen Oberflächlichkeit, die einfach nur Begriffe ändert, ansonsten aber alles beim alt Gewohnten belässt. In Folge des dualistischen Denkens - das in der europäischen Denktradition, um dies nur einmal ganz beiläufig zu erwähnen, vorchristlich ist und seine Ursprünge in der griechischen Philosophie hat - fand eine Entwertung des Körpers statt. "Der Körper ist ein Grab" (soma sema) sagt Plato im Gorgias und entlehnt selber diesen Ausdruck von Philolaos. Als eine Art Bindeglied steht zwischen Körper und Geist die Seele als Repräsentantin des Selbst. Da die Seele nicht nur dem Bereich des Geistes angehört, sondern auch materielle Gedanken, Impulse und Begierden enthält, muss sie gereinigt werden. So wird bei Plato nicht nur der Körper herabgesetzt, sondern auch die Seele. Über beidem steht der Geist als völlig unstoffliche Kraft. Das Ergebnis ist eine Geistigkeit, die voller Feindseligkeit und Verachtung auf die Welt und ihre Bindungen blickt.
Aus dieser Sicht entstanden zwei verschiedene Schlussfolgerungen, die sich in zwei gegensätzlichen Lebensstilen ausdrücken: In der Askese und in der Ausschweifung. Die Askese entsteht und erhält sich auf streng dualistischer Basis durch Angst. Sie steht auf der Annahme, dass das, was als das "Beste" im Menschen angenommen wird, verunreinigt werden könnte, bzw. dass bereits bestehende Verunreinigungen entfernt werden müssen. Auf diese Weise sollen die Seele und der Geist befreit werden, auch unter Qualen. Das Gegenteil hierzu, die Ausschweifung, beruht auf der Verachtung. Äußerste Verachtung für den Körper und die Welt leugnet Materie sogar als Gefahr. Körper und Materie erscheinen hierbei als so schlecht, dass man sich einfach darüber erhebt und willkürlich und rücksichtslos mit ihnen umgeht. Ausschweifung empört sich gerne gegen Askese, doch beide haben die gleiche Wurzel. Das eine ist die Verneinung des Körpers durch Nichtachtung und Enthaltsamkeit, das andere der Missbrauch des Körpers durch Zügellosigkeit und Überbeanspruchung.
Anders im Tantra. Hier durchdringen, umschließen und bedingen sich Körper und Geist gegenseitig - sie bilden kein Gegensatzpaar. Der Körper ist hier nicht ein Ding, das der Mensch hat und als Objekt von Spekulationen betrachten kann, sondern der Mensch ist Körper. Dies könnte nun natürlich auf der Basis des Körper-Geist Dualismus gründlich materialistisch missverstanden werden. Nach tantrischer Ansicht sind jedoch Lebenswelt und Körper weder ganz subjektiv (geistig), noch ganz objektiv (körperlich), sondern beides. Der Körper, der wir sind, ist eine Gesamtheit aus Wirksamkeiten, die nicht getrennt sind von der sie umgebenden Welt. Es gehen gleichermaßen Handlungen von diesem Körper aus, wie auch die wahrgenommenen Dinge zu diesem Zentrum hin orientiert sind. Die Gesamtheit der Wirksamkeiten umfasst fünf psychophysische Bestandteile, fünf elementare Kräfte und fünf Sinnesobjekte. Die psychophysischen Bestandteile sind Farbe-Form als erkenntnistheoretisches Objekt in wahrnehmbaren Situationen, außerdem Gefühlsurteil-Empfindung, Unterscheidungsfähigkeit-Begriffsbildung, diskursives Denken und abstrakte Wahrnehmung. Die fünf Elemente sind Erde (Festigkeit), Wasser (Kohäsion und Fliessen), Feuer (Temperatur und Licht), Luft (Beweglichkeit und Schnelligkeit) und Raum (umfassende Weite). Die fünf Sinnesobjekte sind Farbe, Klang, Geruch, Geschmack und Struktur. Die Lebenswelten entstehen durch die Begegnung der Sinne mit ihren jeweiligen Sinnesobjekten. Erhalten werden sie als individuelle Lebenswelten durch wertende Unterscheidung, subjektive Standpunke, latente Neigungen, Wünsche und Emotionen, die aus diesen Faktoren resultieren und ihrerseits wiederum verstärkend auf sie einwirken.
Hier nun erblicken wir den von Caurangipa beschriebenen "Baum der Un-Kenntnis", der vom "Monsun der Gewohnheiten" gewässert wird. Die eigentliche Un-Kenntnis besteht in diesem Zusammenhang in der dualistischen Idee, das System der Wirksamkeiten bilde in seinem Zusammenspiel eine selbstexistente Größe, die unabhängig einer Welt gegenübersteht, die ihrerseits in eine Vielzahl derartiger Entitäten zersplittert zu sein scheint. Diese Vorstellung äußert sich in dem Denksystem "Ich und die anderen" mit all seinen emotionalen Verflechtungen, den "Zweigen des Truges". Die "Wurzeln des Baumes der Un-Kenntnis" bilden der Geist selber und die dort allein liegenden dualistischen "Geistesgifte", d.h. die "drei Wurzelgifte" und die "fünf Leidenschaften". Die "Wurzelgifte" sind Gier nach systemimmanent als angenehm definierten Ereignissen, Ablehnung gegenüber Ereignissen, die als unangenehm definiert sind, und schließlich Ignoranz gegenüber der grundsätzlich ungeteilten Wirklichkeit. Die mit den psycho-physischen Bestandteilen verbundenen "fünf Leidenschaften" sind: Lust oder Gier, Hass, Trägheit, Hochmut und Eifersucht.
Begriffe wie "Un-Kenntnis" oder auch "Illusion", "Trug" etc. bezeichnen also einen Zustand, in dem sich das Individuum durch eine Welt aus Vorstellungen und Theorien bewegt und diese für eine Wirklichkeit im absoluten Sinne hält, statt "Welt" als synergetisches Gesamtsystem zu begreifen, zu leben und zu achten.
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Diskursiver Geist und Geist-an-sich
Der Begriff "Geist" wird in diesem Zusammenhang in zwei Aspekte unterteilt: Diskursiver Geist oder auch "Geist in Bewegung" und "Geist an sich". Andere Bezeichnungen für "Geist an sich" sind "Natur des Geistes" oder auch "klares Licht". Der Geist, der als Ort der "Geistesgifte" genannt wird, ist der "Geist in Bewegung", d.h. der Bereich des diskursiven Denkens und der damit verbundenen ichbezogenen Wahrnehmung. Dies ist die gedankliche Tätigkeit, mit der die wahrgenommenen Erscheinungen gegenübergestellt, verglichen, gebilligt, verworfen und klassifiziert werden. Mit diesen Mitteln wird eine virtuelle Welt der Grenzziehungen errichtet. Unentwegt werden hierbei Grenzen zwischen Individuen, zwischen diesen und jenen Religionen oder sonstigen Weltanschauungen, diesem und jenem Volk etc. gezogen. Innerhalb dieser Begrenzungen wird dann von den Individuen die Festlegung eines Standpunktes eingefordert oder vom wahrnehmenden Individuum Zuordnungen vorgenommen. Eine besondere Spielart dieses Prinzips zeigt sich in der postmodernen Esoterik. Dort verliert sich der begriffliche und konzeptuelle Konsens im "weißen Rauschen der Beliebigkeit". Die Definitionsmacht wird hier nun von der kulturellen Gemeinschaft in den Bereich des Ego verlegt: Richtig und wahr ist nurmehr, was das Ich dazu erklärt. Diesem Prinzip liegt ein missverstandener und unreflektierter Freiheitsbegriff zugrunde, denn die einzige Freiheit besteht hier darin, dass das Individuum sich selber noch enger begrenzt. Die so entstehenden Wahrnehmungs- und Denkmuster halten wir für Wirklichkeit --- die Tantras hingegen sehen sie einfach als eine Art Neurose.
Die tantrische Philosophie des Buddhismus basiert auf der Lehre vom Nicht-Selbst. Dieses Selbst, das von den Tantras negiert wird, ist ein Produkt des diskursiven Geistes, d.h. eine idealisierte Person mit eingebildeten und postulierten Eigenschaften, mit der sich das Individuum im Guten wie im Schlechten identifiziert. Wichtigstes Prinzip der dualistischen Sichtweise ist die Vergöttlichung des idealisierten Selbst. "Vergöttlichung" bezeichnet hier den Prozess der Abgrenzung gegen andere Menschen, wobei die anderen als minderwertig herabgewürdigt werden, bzw. die Lebenswelt dieses Ich über alle anderen Lebenswelten erhoben wird. Auf dem Höhepunkt der Vergöttlichung des eingebildeten Selbst wird schließlich anderen Menschen überhaupt die Möglichkeit wirklichen Seins abgesprochen. So ist es gerade das Selbst, das, ganz gleich wie sehr es gefüttert, gepriesen, beweihräuchert und verherrlicht wird, den Menschen vom Sein zurückhält. Anders ausgedrückt: Die Welt des gewöhnlichen, dualistischen Geisteszustandes ist nichts, als ein System wahnhafter Fixierungen auf Vorstellungen über ein eigenes Selbst und auf Theorien über die Welt.
Die "Natur des Geistes" dagegen ist ein subtileres Bewusstsein, ein reines, erkennendes Gewahrsein, das von den Erscheinungen nicht getrennt ist. Dieses nichtduale Gewahrsein bildet ein Kontinuum absoluten Bewusstseins, das sich durch alle Erfahrungen und alles Sein zieht und als Urgrund aller Phänomene verstanden wird. Das Ich während einer friedlichen Unterhaltung bei Kaffe und Kuchen ist nicht identisch mit dem durch Jähzorn aufgewühlten Ich oder dem Ich eines Traumes. Was aber allen drei Ich-Zuständen zugrunde liegt ist der Geist-an-sich. "Sein" ist das Zusammenspiel der vielfältigen Daseinsfaktoren. "Bewusstein" ist erkennendes Gewahrsein. "Erfahrung" ist das Zusammentreffen von Ereignis und Bewusstsein (durch das Zusammentreffen von Zucker und Zunge/Geschmacksbewusstsein etwa entsteht die Erfahrung "süß"). Nicht-Dualität ist die Ungetrenntheit dieser drei Bereiche. Das Erleben einer solchen Einheit von Sein-Bewusstsein-Erfahrung bildet daher den Kern tantrischer Philosophie und das Ziel tantrischer Praxis. Tantrismus verlangt also nicht, dass das Individuum den unmöglichen Versuch unternimmt, sich in das vorgestellte gottgleiche Selbst zu verwandeln, sondern dass es seine Möglichkeiten und die ihm innewohnenden Potenziale entdeckt und verwirklicht, indem es in ein ungeteiltes und erkennendes Sein tritt.
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Gift und Weisheit
Ausgangspunkt tantrischer Praxis ist also zunächst einmal die allgemein buddhistische Beschreibung des Zustandes der Verblendung: Die Menschen sind verstrickt in illusionäre Annahmen und daraus resultierende Leidenschaften. Das eigentliche Sein der Welt ist gekennzeichnet durch Leerheit von inhärenter Eigenexistenz, d.h. Dinge bestehen aus Dingen bestehen aus Dingen etc.p.p. Die Erscheinungen sind also zusammengesetzt aus anderen Erscheinungen und bestehen in gegenseitiger Abhängigkeit einer unermesslichen Vielzahl von Faktoren - eine unabhängige Eigenexistenz einzelner Erscheinungen gibt es daher nicht.
Der Zustand der Verblendung wird aufrechterhalten durch die fünf Leidenschaften. Was die verschiedenen Strömungen des Buddhismus unterscheidet, ist ihr unterschiedlicher Umgang mit diesen Giften. Im Hinayana werden die Gifte und ihre Ursachen erkannt und durch Anwendung von Regeln und Gelübten vermieden und umgangen. Im Mahayana werden die Gifte in der Erkenntnis der Leerheit aufgelöst und wirkungslos gemacht. Im Tantra schließlich werden durch die Praxis des Gottheiten-Yoga die Gifte genutzt und in Weisheit transformiert.
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Zufluchtnahme und Initiation
Unabdingbare Voraussetzung für den Weg der Transformation sind die Zufluchtnahme und die Initiation durch einen authentischen Meister oder eine Meisterin. Zufluchtnahme ist das Prinzip, das einen Buddhisten zum Buddhisten macht. Die allgemeine und exoterische Form ist die Zufluchtnahme zu den "Drei Juwelen", d.h. zum Buddha, zum Dharma, der buddhistischen Lehre, und zum Sangha, der Gemeinschaft der Praktizierenden. Dem folgt im Tantrismus die esoterische Zuflucht zu den "Drei Wurzeln", d.h. zum spirituellen Lehrer (skt.: Guru; tib.: Lama), zur Meditationsgottheit (skt.: Deva; tib.: Yidam) und zur kreativen Kraft (skt.: Dakini; tib.: Khandro).
Nachdem ein Schüler die Lehren gehört, gelesen, reflektiert und für richtig befunden hat, tritt er mit dem Akt der Zufluchtnahme in die Praxis ein. Buddhismus ist ein Weg der Praxis. Alle Theorie dient lediglich als Vorbereitung und Hilfsmittel auf der Ebene diskursiven Denkens. Diese Ebene, also die Ebene der künstlichen Grenzziehungen, die auch den Geisteszustand der Illusion kennzeichnet, wird anfangs als hilfreiches Mittel genutzt, schließlich aber durch die aus der Praxis resultierenden Einsichten und Verwirklichungen überschritten. Bereits hier wird also Gift in Medizin verwandelt. Der tantrische Meister bzw. die Meisterin repräsentiert gleichermaßen die "Drei Juwelen" und die "Drei Wurzeln", d.h. die lebendige und authentische Lehrtradition und die Erfahrungen, die die Resultate der Praxis sind. So schafft sich der Schüler durch die Zufluchtnahme und den Kontakt zur authentischen Lehre einen Rahmen für die eigene Praxis, der es ihm ermöglicht, den Bereich reiner Fantasien und Wunschvorstellungen zu verlassen und in den Prozess realer und erfahrungsbezogener spiritueller Entfaltung einzutreten.
Durch die Initiation wird der oder die Praktizierende in das Mandala einer tantrischen Gottheit und ihres Gefolges eingeführt und erhält die Kraftübertragung der damit verbundenen Mantras und rituell-meditativen Praktiken. Außerdem versprechen die Schüler, die Praxis auch tatsächlich auszuführen und zu verwirklichen. An solch einer Initiation teilzunehmen bedeutet allerdings nicht automatisch, sie auch zu erhalten. Wem es vielleicht an Verständnisgrundlagen mangelt oder wer etwa überhaupt nur anwesend ist, sich aber ansonsten einem gänzlich anderen weltanschaulichen System zugehörig fühlt, der erhält einen Segen, sozusagen als hilfreichen Impuls.
So besteht also tantrische Praxis im Wesentlichen darin, dass durch die Zufluchtnahme ein Rahmen oder eine Basis formuliert wird, die der Fokussierung des Willens dient. Alle der Praxis und Verwirklichung entgegen gesetzten ich-haften Willensimpulse können so überwunden werden. Als nächstes wird dann der Gottheiten-Yoga ausgeübt. Dabei wird, der liturgischen Meditation folgend, der Praktizierende zur zentralen Gottheit und die Welt zum Mandala, also zum vollkommen reinen, herrschaftlichen Palast der Gottheit. Mit dieser Praxis wird die Begrenzung durch das dualistische Selbst zunehmend gelockert und schließlich überwunden. Die Welt wird als ursprünglich rein erlebt und so von dualistischer Wertung befreit. Die fünf Leidenschaften verlieren ohne die Schablone des dualistischen Selbst ihre spezifische Färbung als Leidenschaften. Dadurch werden sie in fünf ursprüngliche Weisheiten transformiert: Die Weisheit der grundlegenden Dimension der Existenz, die spiegelgleiche Weisheit, die Weisheit der Gleichwertigkeit, die unterscheidende Weisheit und die allesvollendende Weisheit. Das Ergebnis ist schließlich ein Zustand nichtkonditionierter kreativer Präsenz in einem reinen Sein, in der sich die im Individuum angelegten Potenziale ungehindert entfalten können.
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Ein Schlusswort: Pseudomystik der Postmoderne
Esoterik ist gesellschaftsfähig geworden. Nicht weiter erstaunlich, so scheint es, in unserer kapitalistischen Gesellschaft. Da hat sich ein Markt der Esoterik etabliert, der gleichermaßen die irrationalen Fantasien, wie auch die Konsumwünsche seiner Kunden bedient und sie dazu bewegt, nicht unerhebliche Summen zu zahlen. Und sie zahlen gerne, denn dieser Markt hilft ihnen, verschiedenen Bereichen ihrer sehr durchschnittlichen Lebenswelten einen irgendwie mystischen Anschein zu verleihen.
Sie wollen, dass sich die Schrankwand in ihrem Wohnzimmer vom baugleichen Typ im Wohnzimmer ihres Nachbarn unterscheidet? Na dann verwenden sie doch ein paar verspielte Accessoires. Hier ein Häkeldeckchen, dort eine Steingutvase mit künstlicher Patina. Beides relativ günstig bei Ikea erhältlich. Sie wollen, dass sich ihr ehelicher (oder auch außerehelicher) Koitus von der gleichen Tätigkeit ihres Nachbarn abhebt? Na dann ziehen sie ihn doch einfach etwas in die Länge. Nennen sie ihn "Tantra" und schwatzen sie ein wenig von "erotischer Ekstase-Technik" und "Kosmischem Orgasmus". Sie fühlen sich zu verwechselbar in ihrem bisherigen Lebensweg und haben schöne Fantasien von naturverbundener Wildheit und Macht? Prima, nennen sie sich "Hexe". Sie lassen sich gerne mal in watteweiche, gefühlvolle Naturbetrachtungen gleiten, drücken die dann in blumigen Wald- und Wiesenmetaphern aus und haben dabei eine irgendwie asiatische Empfindung? Wunderbar, bezeichnen sie sich halt einfach als "Taoisten". Historische oder philosophische Kontexte derartiger Begrifflichkeiten brauchen sie nicht zu kümmern, Hauptsache für sie fühlt es sich richtig an.
Tatsächlich spiegelt genau dieses "für MICH fühlt es sich aber SO richtig an" nichts anderes wider, als einfach nur die allgegenwärtige Vergöttlichung des Ich. Die esoterischen Kreise der "Neuen Hexen", "Neuheiden", "Magier", "Taoisten" und wie auch immer sie sich nennen mögen, behaupten für sich in der einen oder andren Form eine Andersartigkeit gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft. Bei genauerer Betrachtung beschränkt sich allerdings die Andersartigkeit meist auf rein sprachliche Formen. Innerhalb der kulturellen Parameter werden geringfügige Bedeutungsverschiebungen auf sprachlicher Ebene vorgenommen. Da wird dann eben irgendeine Tätigkeit umbenannt oder mit einem Begriff aus einer exotischeren Sprache belegt. Nur, was ändert das tatsächlich an der Tätigkeit oder demjenigen, der sie ausführt? Maximal der Eigendünkel des Handelnden ist verändert. Oder es werden innerhalb der gegebenen Parameter neue Argumente zur Legitimierung hedonistischer Handlungsmuster konstruiert, die dann eben etwas mystischer oder auch romantischer klingen. Aber wo liegt da eine Veränderung? Letztlich werden dabei Denk- und Handlungsmuster umbenannt und romantischer begründet, die eben so in dieser Gesellschaft gedacht und getan werden. Man sollte bei all diesen neuen Heiden, Hexen und Magiern mit ihrer vermeintlichen Andersartigkeit und marktschreierischen Geheimniskrämerei wirklich nicht zu genau hinsehen, andernfalls entdeckt man ein ungemein ernüchterndes Apologetentum der Durchschnittlichkeit, das in seiner Aggressivität und seinem elitären Getue doch nur die kulturelle Umgebung widerspiegelt, von der es sich so vehement unterscheiden möchte.
Im Tantrismus haben sich bis in unsere Gegenwart alte mystisch-magische Traditionen Eurasiens erhalten. Unterschiedliche Aspekte der in den Tantras dargestellten Sichtweisen und Methoden lassen sich in allen authentischen Lehren der Mystik und Magie rund um den Globus wieder finden. Statt sich aber für tatsächliche und authentische "Geheimlehren" zu öffnen und dafür gegebenenfalls auch die Mühe des Lernens auf sich zu nehmen, zieht sich das Gros der postmodernen Esoteriker lieber in die Gemütlichkeit privater Fantasiewelten zurück, in denen das Ego so wunderbar groß und glänzend erscheint, weil es sich eben sagt: "Ich bin groß und glänzend". Und was hierzu im Widerspruch steht, das wird dann einfach aus dieser Privatheit ausgeschlossen - nicht selten mit Hilfe von Verschwörungstheorien oder klischeehaften Feindbildern.
Geht man davon aus, dass sich unter diesen Esoterikern vielleicht doch die eine oder andre Person befindet, die tatsächlich ernsthaft auf einer spirituellen Suche ist, so ist wohl im Zusammenhang mit dem Esoterikmarkt und der von ihm produzierten Szene das Wort "Sumpf" angebracht, der die Suchenden doch nur in genau dem Gefängnis zementiert, dem sie entrinnen wollten.
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Leseempfehlungen:
Chögyal Namkhai Norbu: Spiegel des Bewußtseins. München: Diederichs Gelbe Reihe.
Dowman, Keith: Die Meister der Maham
udra. München: Diederichs.
Guenther, Herbert V.: Tantra als Lebensanschauung. Düsseldorf: ECON.
Mullin, Glenn H.: Female Buddhas: Women of Enlightenment in Tibetan Mystical Art. Santa Fe, New Mexico: Clear Light Publishers.
Seit undenklichen Zeiten
Verleihen die Wurzeln des Baumes der Un-Kenntnis,
Wohl gewässert vom Monsun der Gewohnheiten,
Wachstum den Zweigen des Truges.
Heute habe ich den Baum der Un-Kenntnis gefällt,
Meine Axt war die Unterweisung des Lehrers:
Höre, denke darüber nach und übe dich darin!
So singt der Mahasiddha Caurangipa und beschreibt damit sowohl den gewöhnlichen Zustand des Menschen aus tantrischer Sicht, wie auch den Ausweg aus diesem Dilemma. Anders ausgedrückt: Mit seinen eingefahrenen Denk- und Handlungsgewohnheiten erschafft sich der Mensch ein nahezu undurchdringliches Dickicht wahnhafter Vorstellungen über sich und die Welt, in dem er gefangen ist. Es gibt jedoch ein Entrinnen aus den selbsttrügerischen Begrenzungen, hin zum eigentlichen Wesen der Welt.
Der genannte Sanskrit-Terminus "Mahasiddha" bedeutet "großer Adept" und bezeichnet die "großen Verwirklicher" der tantrischen Lehren. Ein solcher Adept ist ein Individuum, das durch das sogenannte Sadhana, d.h. eine spirituelle und psychische Disziplin, Siddhis verwirklicht hat, das bedeutet psychische und spirituelle Kräfte. Die Mahasiddhas des alten Indien hatten mit den Konventionen des klösterlichen Lebens ihrer Zeit gebrochen. Sie ließen die Klöster hinter sich und praktizierten in Höhlen und Wäldern, auf Leichenverbrennungsplätzen und in den nordindischen Dörfern. Dargelegt werden die von den Mahasiddhas praktizierten Methoden in einer buddhistischen Schriftengattung, den sogenannten Tantras.
Traditionen, Sichtweisen und Methoden
Zwischen dem 3. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung kam es innerhalb des Buddhismus zur Entwicklung eines neuen Lehrzweiges, der sich schließlich als lebendige und ungebrochene magisch-mystische Tradition in den vergangenen Jahrzehnten unter Bezeichnungen wie Vajrayana, "Diamantenfahrzeug", Tantrayana, "Tantrafahrzeug" oder auch als Guhyamantra, das "Geheime Mantra" über die ganze Welt verbreitet hat. Philosophisch basiert dieses System auf den in den Mahayana-Sutras dargelegten und in den philosophischen Schulen des Madhyamaka und Cittamatra systematisierten Einsichten, doch hinsichtlich ihrer Meditations- und Praxismethoden unterscheidet es sich radikal von den Methoden anderer Lehrzweige.
Das Klischee zeigt den Buddhismus als weltverneinende Mönchsreligion, in der alle starken Emotionen aufgelöst oder verdrängt werden. Dieses Klischee geht - wie dies wohl im Wesen des Klischees liegt - an der Wirklichkeit des Buddhismus vorbei. Grundsätzlich werden im Buddhismus drei Yanas, d.h. Fahrzeuge, und drei Ebenen der Praxis und damit verbundene Sichtweisen unterschieden: Hinayana, Mahayana und Vajrayana, sowie die Praxisebenen Sutra (im Hinayana und Mahayana), Tantra und Dzogchen oder Mahamudra. Was sie alle vereint ist das Streben nach der Buddhaschaft. Was genau dies jedoch sei und wie man es erreichen könne, darin unterscheiden sie sich - zumindest bei oberflächlicher Betrachtung - scheinbar sehr. "Buddha" bedeutet wörtlich "der Erwachte". Dieses Erwachen ist eine vollkommene Einsicht in das wahre Wesen aller Erscheinungen, also ein Prozess, der sich im Bewusstsein vollzieht. Die Methoden beziehen sich daher darauf, die Achtsamkeit auf bestimmte Aspekte des erlebten Seins und des beobachtenden Bewusstseins selbst zu richten, um so dieses Erwachen einzuleiten.
Hinayana bedeutet "Kleines Fahrzeug" und ist heute vor allem vertreten durch den Theravada-Buddhismus (dessen Anhänger den Ausdruck "Hinayana" allerdings gar nicht mögen). Sein Ziel ist die persönliche Befreiung des Praktizierenden aus dem Daseinskreislauf. Die Welt wird hier als leidhaft erfahren, der Grund dafür ist Karma und der verblendete, also der nichterkennende Geist. Die Methode ist Entsagung der leidhaften Welt und Kontrolle des eigenen Verhaltens, so dass für andere keine Probleme verursacht werden, d.h. im Idealfall Rückzug aus der Welt in die klösterliche Gemeinschaft und strenge Observanz des Vinaya, d.h. hunderter Regeln und Gelübte, die das monastische Leben strukturieren. Die Gelübte gelten für das gegenwärtige Leben und enden mit dem Tod. Die endgültige Befreiung liegt im Nirvana, d.h. im Erlöschen aller persönlichen Daseinsimpulse. Dargelegt sind die Lehren des Hinayana in den Sutras des so genannten Pali-Kanons.
Im Mahayana kommt dem Prinzip der Motivation eine besondere Bedeutung bei. Regeln gelten zwar als nützlich, um negative Ursachen zu beenden, aber um wirklich gute Wirkungen zu erzielen, muss die zugrunde liegende Absicht gut sein. Außerdem tritt im Mahayana an die Stelle der persönlichen Befreiung das Bodhisattva-Ideal. Der Gedanke der persönlichen Befreiung gilt hier als Ausdruck einer weiterhin bestehenden Anhaftung an die Vorstellung eines unabhängig existierenden Selbst. Der Bodhisattva hingegen entwickelt seine geistigen Fähigkeiten, um gleichermaßen für alle Wesen von Nutzen zu sein, und verzichtet aus dem gleichen Grund auf die finale Befreiung im Nirvana, dem Erlöschen. Er bleibt also in der Welt, sei es in manifester oder auch in subtiler Form, um anderen, die nicht seine Einsicht und seine Fähigkeiten besitzen, helfen zu können, so zu werden, wie er selbst, d.h. das ihnen innewohnende Potenzial zu entfalten.
So zu werden wie er selbst? An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem Geschlecht auf. Bodhisattvas müssen nicht notgedrungen männlich sein. Prominentes Beispiel für einen weiblichen Bodhisattva und Buddha ist die berühmte Göttin Tara. In ihrem Mythos wird berichtet, dass sie das Gelübte abgelegt habe, in weiblicher Erscheinung zum Wohle aller empfinden Wesen zu wirken --- womit sie sich von Aussagen des alten Buddhismus distanziert, denen zufolge Erleuchtung nicht von Frauen zu erlangen sei. Beschritten wird der Bodhisattva-Pfad mit dem Bodhisattvagelübte. Dieses Gelübte gilt bis zur Erlangung des Zustandes der Buddhaschaft, also weit über das gegenwärtige Leben hinaus.
Die Hauptprinzipien des Mahayana sind die Schulung von Intelligenz und Disziplin und die Kultivierung von Bodhicitta, d.h. die Überprüfung der Motivation bei allem, was getan wird. Die wichtigste Textgattung des Mahayana sind die Sutras, in denen die philosophischen Einsichten und kontemplativen Methoden dargelegt werden. Zu großer Berühmtheit sind vor allem die Prajnaparamita-Sutras gelangt, d.h. die Sutras der Transzendenten Weisheit. Die in den Sutras präsentierte Praxisebene umfasst Entsagung, Entwicklung der tieferen Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit und Anwendung des Bodhisattva-Ideals.
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Grundprinzipien des Tantra
Vajrayana, das "diamantene Fahrzeug", bezeichnet den Weg der tantrischen Lehren des Buddhismus. Der Begriff "Tantra" ist allerdings heutzutage nicht ganz unproblematisch. Leider wird er meist mit spirituell verbrämtem sexuellem Hedonismus, den sich vorwiegend westliche Autoren zurecht fantasieren, gleich gesetzt. Es wäre nur wünschenswert, dass sich eines Tages vielleicht doch herumspricht, dass Tantra, wie es vom heutigen Esoterikmarkt hervorgebracht wird, im Großen und Ganzen nicht mehr ist, als eine groteske Verzerrung durch zynische Geschäftemacher, die meilenweit an der Sache vorbeigeht und lediglich Verwirrung stiftet. Die albernen Sexualratgeber, die in jeder kleinen Esoterikbuchhandlung die Regale füllen, haben in etwa so viel mit Tantra zu tun, wie Frolic mit Haute Cuisine.
Der Sanskrit-Terminus "Tantra" bedeutet wörtlich "Faden" oder "Gewebe" im Sinne von Kontinuität. Tantra arbeitet mit Energie. Es werden hier drei nicht voneinander getrennte (!) Ebenen der Existenz unterschieden: Der Körper, die Stimme und der Geist. Sutra ist vor allem mit der Ebene des Körpers verbunden. Tantra hingegen bezieht sich vorwiegend auf die Dimension der Stimme, die mit dem Atem und darüber mit dem Prana, der subtilen Energie, verbunden ist. Außerdem repräsentiert die Stimme aber natürlich auch Klang, der seinerseits verknüpft ist mit Mantra und dieses wiederum mit Silben. Die verschiedenen Silben symbolisieren verschiedene Formen von Energie. So bilden die Silben eines Mantras das spezifische Muster der damit verbundenen tantrischen Gottheit. Das Mantra ist diese Gottheit in Form von Klang und die Gottheit ist ein energetischer Aspekt der Wirklichkeit im tiefsten, innersten Sinne.
Im Buddhismus werden verschiedene Formen von Tantra hinsichtlich der in ihnen gelehrten Methoden unterschieden. Die gebräuchlichste Unterteilung ist die in niederes und höheres Tantra. Grundsätzlich gilt für alle Tantras, dass ihnen die Energie und alles, was die menschliche Existenz ausmacht, als Wert erscheint. Niederes oder auch äußeres Tantra ist der Weg der Reinigung von verzerrenden und trennenden Konzepten und Geistesfunktionen. Hierbei werden die Adepten durch verschiedene Observanzen, z.B. Beachtung besonderer Reinheits- und Speisegebote, und Rituale darauf vorbereitet, die Weisheit der jeweiligen Gottheiten - am bekanntesten sind Tara und Avalokiteshvara - aufzunehmen, d.h. in sich zu verwirklichen. Der eigentliche Weg der Transformation ist das höhere Tantra, Anuttaratantra lautet der Sanskrit-Terminus. Hier werden die Leidenschaften in Weisheit transformiert, ein Prozess, in dem alle konzeptuellen Begrenzungen durchbrochen werden.
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Dualismus und Nicht-Duale Sicht
Was sind das für Begrenzungen? Das gewöhnliche Denken ist geprägt durch dualistische Annahmen. Im westlichen Denken etwa wird der Körper-Geist Dualismus mit seiner negativen Bewertung des Körpers bis in unsere Gegenwart mehr oder weniger als selbstverständlich hingenommen. Versuche unterschiedlicher neuer esoterischer Gruppierungen zur Aufhebung dieses Dualismus verlieren sich meist in der für postmoderne Esoterik so typischen Oberflächlichkeit, die einfach nur Begriffe ändert, ansonsten aber alles beim alt Gewohnten belässt. In Folge des dualistischen Denkens - das in der europäischen Denktradition, um dies nur einmal ganz beiläufig zu erwähnen, vorchristlich ist und seine Ursprünge in der griechischen Philosophie hat - fand eine Entwertung des Körpers statt. "Der Körper ist ein Grab" (soma sema) sagt Plato im Gorgias und entlehnt selber diesen Ausdruck von Philolaos. Als eine Art Bindeglied steht zwischen Körper und Geist die Seele als Repräsentantin des Selbst. Da die Seele nicht nur dem Bereich des Geistes angehört, sondern auch materielle Gedanken, Impulse und Begierden enthält, muss sie gereinigt werden. So wird bei Plato nicht nur der Körper herabgesetzt, sondern auch die Seele. Über beidem steht der Geist als völlig unstoffliche Kraft. Das Ergebnis ist eine Geistigkeit, die voller Feindseligkeit und Verachtung auf die Welt und ihre Bindungen blickt.
Aus dieser Sicht entstanden zwei verschiedene Schlussfolgerungen, die sich in zwei gegensätzlichen Lebensstilen ausdrücken: In der Askese und in der Ausschweifung. Die Askese entsteht und erhält sich auf streng dualistischer Basis durch Angst. Sie steht auf der Annahme, dass das, was als das "Beste" im Menschen angenommen wird, verunreinigt werden könnte, bzw. dass bereits bestehende Verunreinigungen entfernt werden müssen. Auf diese Weise sollen die Seele und der Geist befreit werden, auch unter Qualen. Das Gegenteil hierzu, die Ausschweifung, beruht auf der Verachtung. Äußerste Verachtung für den Körper und die Welt leugnet Materie sogar als Gefahr. Körper und Materie erscheinen hierbei als so schlecht, dass man sich einfach darüber erhebt und willkürlich und rücksichtslos mit ihnen umgeht. Ausschweifung empört sich gerne gegen Askese, doch beide haben die gleiche Wurzel. Das eine ist die Verneinung des Körpers durch Nichtachtung und Enthaltsamkeit, das andere der Missbrauch des Körpers durch Zügellosigkeit und Überbeanspruchung.
Anders im Tantra. Hier durchdringen, umschließen und bedingen sich Körper und Geist gegenseitig - sie bilden kein Gegensatzpaar. Der Körper ist hier nicht ein Ding, das der Mensch hat und als Objekt von Spekulationen betrachten kann, sondern der Mensch ist Körper. Dies könnte nun natürlich auf der Basis des Körper-Geist Dualismus gründlich materialistisch missverstanden werden. Nach tantrischer Ansicht sind jedoch Lebenswelt und Körper weder ganz subjektiv (geistig), noch ganz objektiv (körperlich), sondern beides. Der Körper, der wir sind, ist eine Gesamtheit aus Wirksamkeiten, die nicht getrennt sind von der sie umgebenden Welt. Es gehen gleichermaßen Handlungen von diesem Körper aus, wie auch die wahrgenommenen Dinge zu diesem Zentrum hin orientiert sind. Die Gesamtheit der Wirksamkeiten umfasst fünf psychophysische Bestandteile, fünf elementare Kräfte und fünf Sinnesobjekte. Die psychophysischen Bestandteile sind Farbe-Form als erkenntnistheoretisches Objekt in wahrnehmbaren Situationen, außerdem Gefühlsurteil-Empfindung, Unterscheidungsfähigkeit-Begriffsbildung, diskursives Denken und abstrakte Wahrnehmung. Die fünf Elemente sind Erde (Festigkeit), Wasser (Kohäsion und Fliessen), Feuer (Temperatur und Licht), Luft (Beweglichkeit und Schnelligkeit) und Raum (umfassende Weite). Die fünf Sinnesobjekte sind Farbe, Klang, Geruch, Geschmack und Struktur. Die Lebenswelten entstehen durch die Begegnung der Sinne mit ihren jeweiligen Sinnesobjekten. Erhalten werden sie als individuelle Lebenswelten durch wertende Unterscheidung, subjektive Standpunke, latente Neigungen, Wünsche und Emotionen, die aus diesen Faktoren resultieren und ihrerseits wiederum verstärkend auf sie einwirken.
Hier nun erblicken wir den von Caurangipa beschriebenen "Baum der Un-Kenntnis", der vom "Monsun der Gewohnheiten" gewässert wird. Die eigentliche Un-Kenntnis besteht in diesem Zusammenhang in der dualistischen Idee, das System der Wirksamkeiten bilde in seinem Zusammenspiel eine selbstexistente Größe, die unabhängig einer Welt gegenübersteht, die ihrerseits in eine Vielzahl derartiger Entitäten zersplittert zu sein scheint. Diese Vorstellung äußert sich in dem Denksystem "Ich und die anderen" mit all seinen emotionalen Verflechtungen, den "Zweigen des Truges". Die "Wurzeln des Baumes der Un-Kenntnis" bilden der Geist selber und die dort allein liegenden dualistischen "Geistesgifte", d.h. die "drei Wurzelgifte" und die "fünf Leidenschaften". Die "Wurzelgifte" sind Gier nach systemimmanent als angenehm definierten Ereignissen, Ablehnung gegenüber Ereignissen, die als unangenehm definiert sind, und schließlich Ignoranz gegenüber der grundsätzlich ungeteilten Wirklichkeit. Die mit den psycho-physischen Bestandteilen verbundenen "fünf Leidenschaften" sind: Lust oder Gier, Hass, Trägheit, Hochmut und Eifersucht.
Begriffe wie "Un-Kenntnis" oder auch "Illusion", "Trug" etc. bezeichnen also einen Zustand, in dem sich das Individuum durch eine Welt aus Vorstellungen und Theorien bewegt und diese für eine Wirklichkeit im absoluten Sinne hält, statt "Welt" als synergetisches Gesamtsystem zu begreifen, zu leben und zu achten.
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Diskursiver Geist und Geist-an-sich
Der Begriff "Geist" wird in diesem Zusammenhang in zwei Aspekte unterteilt: Diskursiver Geist oder auch "Geist in Bewegung" und "Geist an sich". Andere Bezeichnungen für "Geist an sich" sind "Natur des Geistes" oder auch "klares Licht". Der Geist, der als Ort der "Geistesgifte" genannt wird, ist der "Geist in Bewegung", d.h. der Bereich des diskursiven Denkens und der damit verbundenen ichbezogenen Wahrnehmung. Dies ist die gedankliche Tätigkeit, mit der die wahrgenommenen Erscheinungen gegenübergestellt, verglichen, gebilligt, verworfen und klassifiziert werden. Mit diesen Mitteln wird eine virtuelle Welt der Grenzziehungen errichtet. Unentwegt werden hierbei Grenzen zwischen Individuen, zwischen diesen und jenen Religionen oder sonstigen Weltanschauungen, diesem und jenem Volk etc. gezogen. Innerhalb dieser Begrenzungen wird dann von den Individuen die Festlegung eines Standpunktes eingefordert oder vom wahrnehmenden Individuum Zuordnungen vorgenommen. Eine besondere Spielart dieses Prinzips zeigt sich in der postmodernen Esoterik. Dort verliert sich der begriffliche und konzeptuelle Konsens im "weißen Rauschen der Beliebigkeit". Die Definitionsmacht wird hier nun von der kulturellen Gemeinschaft in den Bereich des Ego verlegt: Richtig und wahr ist nurmehr, was das Ich dazu erklärt. Diesem Prinzip liegt ein missverstandener und unreflektierter Freiheitsbegriff zugrunde, denn die einzige Freiheit besteht hier darin, dass das Individuum sich selber noch enger begrenzt. Die so entstehenden Wahrnehmungs- und Denkmuster halten wir für Wirklichkeit --- die Tantras hingegen sehen sie einfach als eine Art Neurose.
Die tantrische Philosophie des Buddhismus basiert auf der Lehre vom Nicht-Selbst. Dieses Selbst, das von den Tantras negiert wird, ist ein Produkt des diskursiven Geistes, d.h. eine idealisierte Person mit eingebildeten und postulierten Eigenschaften, mit der sich das Individuum im Guten wie im Schlechten identifiziert. Wichtigstes Prinzip der dualistischen Sichtweise ist die Vergöttlichung des idealisierten Selbst. "Vergöttlichung" bezeichnet hier den Prozess der Abgrenzung gegen andere Menschen, wobei die anderen als minderwertig herabgewürdigt werden, bzw. die Lebenswelt dieses Ich über alle anderen Lebenswelten erhoben wird. Auf dem Höhepunkt der Vergöttlichung des eingebildeten Selbst wird schließlich anderen Menschen überhaupt die Möglichkeit wirklichen Seins abgesprochen. So ist es gerade das Selbst, das, ganz gleich wie sehr es gefüttert, gepriesen, beweihräuchert und verherrlicht wird, den Menschen vom Sein zurückhält. Anders ausgedrückt: Die Welt des gewöhnlichen, dualistischen Geisteszustandes ist nichts, als ein System wahnhafter Fixierungen auf Vorstellungen über ein eigenes Selbst und auf Theorien über die Welt.
Die "Natur des Geistes" dagegen ist ein subtileres Bewusstsein, ein reines, erkennendes Gewahrsein, das von den Erscheinungen nicht getrennt ist. Dieses nichtduale Gewahrsein bildet ein Kontinuum absoluten Bewusstseins, das sich durch alle Erfahrungen und alles Sein zieht und als Urgrund aller Phänomene verstanden wird. Das Ich während einer friedlichen Unterhaltung bei Kaffe und Kuchen ist nicht identisch mit dem durch Jähzorn aufgewühlten Ich oder dem Ich eines Traumes. Was aber allen drei Ich-Zuständen zugrunde liegt ist der Geist-an-sich. "Sein" ist das Zusammenspiel der vielfältigen Daseinsfaktoren. "Bewusstein" ist erkennendes Gewahrsein. "Erfahrung" ist das Zusammentreffen von Ereignis und Bewusstsein (durch das Zusammentreffen von Zucker und Zunge/Geschmacksbewusstsein etwa entsteht die Erfahrung "süß"). Nicht-Dualität ist die Ungetrenntheit dieser drei Bereiche. Das Erleben einer solchen Einheit von Sein-Bewusstsein-Erfahrung bildet daher den Kern tantrischer Philosophie und das Ziel tantrischer Praxis. Tantrismus verlangt also nicht, dass das Individuum den unmöglichen Versuch unternimmt, sich in das vorgestellte gottgleiche Selbst zu verwandeln, sondern dass es seine Möglichkeiten und die ihm innewohnenden Potenziale entdeckt und verwirklicht, indem es in ein ungeteiltes und erkennendes Sein tritt.
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Gift und Weisheit
Ausgangspunkt tantrischer Praxis ist also zunächst einmal die allgemein buddhistische Beschreibung des Zustandes der Verblendung: Die Menschen sind verstrickt in illusionäre Annahmen und daraus resultierende Leidenschaften. Das eigentliche Sein der Welt ist gekennzeichnet durch Leerheit von inhärenter Eigenexistenz, d.h. Dinge bestehen aus Dingen bestehen aus Dingen etc.p.p. Die Erscheinungen sind also zusammengesetzt aus anderen Erscheinungen und bestehen in gegenseitiger Abhängigkeit einer unermesslichen Vielzahl von Faktoren - eine unabhängige Eigenexistenz einzelner Erscheinungen gibt es daher nicht.
Der Zustand der Verblendung wird aufrechterhalten durch die fünf Leidenschaften. Was die verschiedenen Strömungen des Buddhismus unterscheidet, ist ihr unterschiedlicher Umgang mit diesen Giften. Im Hinayana werden die Gifte und ihre Ursachen erkannt und durch Anwendung von Regeln und Gelübten vermieden und umgangen. Im Mahayana werden die Gifte in der Erkenntnis der Leerheit aufgelöst und wirkungslos gemacht. Im Tantra schließlich werden durch die Praxis des Gottheiten-Yoga die Gifte genutzt und in Weisheit transformiert.
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Zufluchtnahme und Initiation
Unabdingbare Voraussetzung für den Weg der Transformation sind die Zufluchtnahme und die Initiation durch einen authentischen Meister oder eine Meisterin. Zufluchtnahme ist das Prinzip, das einen Buddhisten zum Buddhisten macht. Die allgemeine und exoterische Form ist die Zufluchtnahme zu den "Drei Juwelen", d.h. zum Buddha, zum Dharma, der buddhistischen Lehre, und zum Sangha, der Gemeinschaft der Praktizierenden. Dem folgt im Tantrismus die esoterische Zuflucht zu den "Drei Wurzeln", d.h. zum spirituellen Lehrer (skt.: Guru; tib.: Lama), zur Meditationsgottheit (skt.: Deva; tib.: Yidam) und zur kreativen Kraft (skt.: Dakini; tib.: Khandro).
Nachdem ein Schüler die Lehren gehört, gelesen, reflektiert und für richtig befunden hat, tritt er mit dem Akt der Zufluchtnahme in die Praxis ein. Buddhismus ist ein Weg der Praxis. Alle Theorie dient lediglich als Vorbereitung und Hilfsmittel auf der Ebene diskursiven Denkens. Diese Ebene, also die Ebene der künstlichen Grenzziehungen, die auch den Geisteszustand der Illusion kennzeichnet, wird anfangs als hilfreiches Mittel genutzt, schließlich aber durch die aus der Praxis resultierenden Einsichten und Verwirklichungen überschritten. Bereits hier wird also Gift in Medizin verwandelt. Der tantrische Meister bzw. die Meisterin repräsentiert gleichermaßen die "Drei Juwelen" und die "Drei Wurzeln", d.h. die lebendige und authentische Lehrtradition und die Erfahrungen, die die Resultate der Praxis sind. So schafft sich der Schüler durch die Zufluchtnahme und den Kontakt zur authentischen Lehre einen Rahmen für die eigene Praxis, der es ihm ermöglicht, den Bereich reiner Fantasien und Wunschvorstellungen zu verlassen und in den Prozess realer und erfahrungsbezogener spiritueller Entfaltung einzutreten.
Durch die Initiation wird der oder die Praktizierende in das Mandala einer tantrischen Gottheit und ihres Gefolges eingeführt und erhält die Kraftübertragung der damit verbundenen Mantras und rituell-meditativen Praktiken. Außerdem versprechen die Schüler, die Praxis auch tatsächlich auszuführen und zu verwirklichen. An solch einer Initiation teilzunehmen bedeutet allerdings nicht automatisch, sie auch zu erhalten. Wem es vielleicht an Verständnisgrundlagen mangelt oder wer etwa überhaupt nur anwesend ist, sich aber ansonsten einem gänzlich anderen weltanschaulichen System zugehörig fühlt, der erhält einen Segen, sozusagen als hilfreichen Impuls.
So besteht also tantrische Praxis im Wesentlichen darin, dass durch die Zufluchtnahme ein Rahmen oder eine Basis formuliert wird, die der Fokussierung des Willens dient. Alle der Praxis und Verwirklichung entgegen gesetzten ich-haften Willensimpulse können so überwunden werden. Als nächstes wird dann der Gottheiten-Yoga ausgeübt. Dabei wird, der liturgischen Meditation folgend, der Praktizierende zur zentralen Gottheit und die Welt zum Mandala, also zum vollkommen reinen, herrschaftlichen Palast der Gottheit. Mit dieser Praxis wird die Begrenzung durch das dualistische Selbst zunehmend gelockert und schließlich überwunden. Die Welt wird als ursprünglich rein erlebt und so von dualistischer Wertung befreit. Die fünf Leidenschaften verlieren ohne die Schablone des dualistischen Selbst ihre spezifische Färbung als Leidenschaften. Dadurch werden sie in fünf ursprüngliche Weisheiten transformiert: Die Weisheit der grundlegenden Dimension der Existenz, die spiegelgleiche Weisheit, die Weisheit der Gleichwertigkeit, die unterscheidende Weisheit und die allesvollendende Weisheit. Das Ergebnis ist schließlich ein Zustand nichtkonditionierter kreativer Präsenz in einem reinen Sein, in der sich die im Individuum angelegten Potenziale ungehindert entfalten können.
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Ein Schlusswort: Pseudomystik der Postmoderne
Esoterik ist gesellschaftsfähig geworden. Nicht weiter erstaunlich, so scheint es, in unserer kapitalistischen Gesellschaft. Da hat sich ein Markt der Esoterik etabliert, der gleichermaßen die irrationalen Fantasien, wie auch die Konsumwünsche seiner Kunden bedient und sie dazu bewegt, nicht unerhebliche Summen zu zahlen. Und sie zahlen gerne, denn dieser Markt hilft ihnen, verschiedenen Bereichen ihrer sehr durchschnittlichen Lebenswelten einen irgendwie mystischen Anschein zu verleihen.
Sie wollen, dass sich die Schrankwand in ihrem Wohnzimmer vom baugleichen Typ im Wohnzimmer ihres Nachbarn unterscheidet? Na dann verwenden sie doch ein paar verspielte Accessoires. Hier ein Häkeldeckchen, dort eine Steingutvase mit künstlicher Patina. Beides relativ günstig bei Ikea erhältlich. Sie wollen, dass sich ihr ehelicher (oder auch außerehelicher) Koitus von der gleichen Tätigkeit ihres Nachbarn abhebt? Na dann ziehen sie ihn doch einfach etwas in die Länge. Nennen sie ihn "Tantra" und schwatzen sie ein wenig von "erotischer Ekstase-Technik" und "Kosmischem Orgasmus". Sie fühlen sich zu verwechselbar in ihrem bisherigen Lebensweg und haben schöne Fantasien von naturverbundener Wildheit und Macht? Prima, nennen sie sich "Hexe". Sie lassen sich gerne mal in watteweiche, gefühlvolle Naturbetrachtungen gleiten, drücken die dann in blumigen Wald- und Wiesenmetaphern aus und haben dabei eine irgendwie asiatische Empfindung? Wunderbar, bezeichnen sie sich halt einfach als "Taoisten". Historische oder philosophische Kontexte derartiger Begrifflichkeiten brauchen sie nicht zu kümmern, Hauptsache für sie fühlt es sich richtig an.
Tatsächlich spiegelt genau dieses "für MICH fühlt es sich aber SO richtig an" nichts anderes wider, als einfach nur die allgegenwärtige Vergöttlichung des Ich. Die esoterischen Kreise der "Neuen Hexen", "Neuheiden", "Magier", "Taoisten" und wie auch immer sie sich nennen mögen, behaupten für sich in der einen oder andren Form eine Andersartigkeit gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft. Bei genauerer Betrachtung beschränkt sich allerdings die Andersartigkeit meist auf rein sprachliche Formen. Innerhalb der kulturellen Parameter werden geringfügige Bedeutungsverschiebungen auf sprachlicher Ebene vorgenommen. Da wird dann eben irgendeine Tätigkeit umbenannt oder mit einem Begriff aus einer exotischeren Sprache belegt. Nur, was ändert das tatsächlich an der Tätigkeit oder demjenigen, der sie ausführt? Maximal der Eigendünkel des Handelnden ist verändert. Oder es werden innerhalb der gegebenen Parameter neue Argumente zur Legitimierung hedonistischer Handlungsmuster konstruiert, die dann eben etwas mystischer oder auch romantischer klingen. Aber wo liegt da eine Veränderung? Letztlich werden dabei Denk- und Handlungsmuster umbenannt und romantischer begründet, die eben so in dieser Gesellschaft gedacht und getan werden. Man sollte bei all diesen neuen Heiden, Hexen und Magiern mit ihrer vermeintlichen Andersartigkeit und marktschreierischen Geheimniskrämerei wirklich nicht zu genau hinsehen, andernfalls entdeckt man ein ungemein ernüchterndes Apologetentum der Durchschnittlichkeit, das in seiner Aggressivität und seinem elitären Getue doch nur die kulturelle Umgebung widerspiegelt, von der es sich so vehement unterscheiden möchte.
Im Tantrismus haben sich bis in unsere Gegenwart alte mystisch-magische Traditionen Eurasiens erhalten. Unterschiedliche Aspekte der in den Tantras dargestellten Sichtweisen und Methoden lassen sich in allen authentischen Lehren der Mystik und Magie rund um den Globus wieder finden. Statt sich aber für tatsächliche und authentische "Geheimlehren" zu öffnen und dafür gegebenenfalls auch die Mühe des Lernens auf sich zu nehmen, zieht sich das Gros der postmodernen Esoteriker lieber in die Gemütlichkeit privater Fantasiewelten zurück, in denen das Ego so wunderbar groß und glänzend erscheint, weil es sich eben sagt: "Ich bin groß und glänzend". Und was hierzu im Widerspruch steht, das wird dann einfach aus dieser Privatheit ausgeschlossen - nicht selten mit Hilfe von Verschwörungstheorien oder klischeehaften Feindbildern.
Geht man davon aus, dass sich unter diesen Esoterikern vielleicht doch die eine oder andre Person befindet, die tatsächlich ernsthaft auf einer spirituellen Suche ist, so ist wohl im Zusammenhang mit dem Esoterikmarkt und der von ihm produzierten Szene das Wort "Sumpf" angebracht, der die Suchenden doch nur in genau dem Gefängnis zementiert, dem sie entrinnen wollten.
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Leseempfehlungen:
Chögyal Namkhai Norbu: Spiegel des Bewußtseins. München: Diederichs Gelbe Reihe.
Dowman, Keith: Die Meister der Maham
udra. München: Diederichs.
Guenther, Herbert V.: Tantra als Lebensanschauung. Düsseldorf: ECON.
Mullin, Glenn H.: Female Buddhas: Women of Enlightenment in Tibetan Mystical Art. Santa Fe, New Mexico: Clear Light Publishers.
Uhanek - 8. Sep, 22:38