Tod und Trauer

Donnerstag, 8. Mai 2008

Die Gegenwart des Todes - persönliche Gedanken über Tod und Trauer

© Oliver Ohanecian

Schlußstück

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er es zu weinen,
mitten in uns.

(Rainer Maria Rilke)


Einleitung

Die Erfahrung der Trauer ist ein Teil unseres Menschseins. Verschiedene Kulturen, Religionen und psychologische Schulen haben unterschiedliche Theorien und Praktiken entwickelt, wie mit dem Sterben, dem Tod und der Trauer umzugehen sei. Was uns der Tod lehrt ist, dass wir Wesen in der Zeit und somit begrenzt sind. In einer fortwährenden Abfolge von Bewusstseinsmomenten werden wir geboren, reifen, sterben und werden wieder geboren, in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug und jedem Herzschlag. So zumindest entspricht es der Sicht des Buddhismus, um die es in diesem Artikel geht. Der grundlegenden Wahrheit unseres endlichen Da-Seins hält die herrschende Spaß- und Konsum-Kultur der Postmoderne gern eine ihr eigene Illusion der Dauer mit Hilfe chirurgischer Eingriffe, revitalisierender Wellnessprogramme und Butoxspritzen entgegen. Tod und Sterben indes werden verdrängt. Dem gegenüber steht die buddhistische Sicht auf das dynamische und wandelbare Wesen der Welt und seine Betonung der Vergänglichkeit individueller Lebenswelten bei gleichzeitigem aktivem Mitgefühl für die Leiden, die dem Wunsch nach Dauer entspringen.

Die Mehrheit der Menschen stirbt heute in spezialisierten Einrichtungen wie Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, zunehmend auch in Hospizen, selten jedoch für Angehörige und Nachbarn sichtbar zu Hause. Wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, lässt sich auch im Bereich der Trauerriten und –bräuche ein Traditionsschwund beobachten. Tod, das ist heute vorwiegend ein Medienereignis, etwas, das sich in den Nachrichten und Vorabendserien abspielt. Im wirklichen Leben hingegen führt er durch fehlende Vorbilder und fehlendes Brauchtum zu Irritationen und Unsicherheiten, was im Trauerfall zu tun oder zu sagen sei. Und die Zahl der kirchlichen Betreuungen und Bestattungen sinkt .

Dieses weltanschauliche Vakuum wird zunehmend gefüllt durch eine wachsende Hinwendung zu buddhistischen Anschauungen und Praktiken. Die buddhistische Philosophie mit ihrer Sicht auf unser Dasein, ihren Übungen zur Entwicklung von Mitgefühl, aber auch ihren meditativen Übungen zur Stabilisierung der achtsamen Präsenz oder des Verständnisses des auf intellektuellem Wege so schwer zu verstehenden Begriffes der Leerheit, kann für Trauernde und Sterbende von großem Nutzen sein, wie auch für Menschen, die Trauernden und Sterbenden beistehen.

Wie sich buddhistische Methoden und Sichtweisen in Bezug auf Trauerprozesse nutzen lassen, will ich im Folgenden auf der Grundlage eigener Erfahrungen umreißen. Buddhismus, das ist für mich gelebte und angewandte Spiritualität, das ist die Integration aller Umstände des Lebens in einen großen, umfassenden Sinnzusammenhang.


Vorgeschichten

Ich selbst machte die erste richtige Trauererfahrung im Alter von neun Jahren, als mein Urgroßvater nach langer Krankheit starb. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir der Bedeutung dieses Ereignisses und damit des Todes im Allgemeinen zum ersten Mal voll bewusst. Opa Otto hatte zwei Jahre vor seinem Tod einen schweren Schlaganfall erlitten, was seinen rechten Arm und die rechte Gesichtshälfte lähmte. Er verfiel dann langsam, wurde bettlägerig und starb schließlich. Mit diesem Tod kam mir erstmals der Gedanke, der Tod sei so etwas ähnliches wie die Geburt und unser Dasein hätte zwei Tore. Gewissermaßen einen Ein- und einen Ausgang.

Mit den Jahren folgen weitere Tode: Der Suizid eines ehemaligen Klassenkameraden durch einen Autounfall – Gas geben, Baum, Tod; oder der Suizid von Gabi, einer bildhübschen Tänzerin, im Alter von neunzehn; der langsame Tod meiner Großtante durch einen Hirntumor; der Krebstod meines Freundes Rainer drei Monate vor seinem fünfzigsten Geburtstag – im Mai die Krebsdiagnose im September tot. Sein Sterben hat mich tief berührt, denn der Tod dieses für mich sehr wichtigen Menschen fiel in eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Denke ich daran zurück, dann denke ich Musik von Sergej Rachmaninov: Das „Blagoslovi dushe moya Gospoda“ und das „Nine otpushtshaeshi“ aus Rachmaninovs Ostermesse. Schließlich der Suizid meines Freundes Matthias – er wollte im Mai 2000 heiraten und ich sollte bei seiner neuheidnischen Hochzeitszeremonie den Part des Bestman übernehmen, doch dann hängte er sich plötzlich im März auf.

Durch all diese Tode erlebte ich verschiedene Trauererfahrungen. Die Suizide brachten vor allem eine Trauer, die geprägt war von Aggression, Wut und Hilflosigkeit. Nach Gabis Suizid durch eine Überdosis Tabletten empfand ich eine tiefe Wut auf ihre Eltern und ihre ältere Schwester, die ich eigentlich nicht persönlich kannte. Und nachdem sich Matthias ohne Vorwarnung, ohne Abschiedsbrief und offensichtlich ganz spontan aus einem Impuls heraus erhängt hatte, richtete sich meine Wut gegen die Frau, die seine Frau hätte werden sollen und die ich bis zu einem gewissen Grade verantwortlich machte. Und für einige Zeit sah ich ihn immer wieder vor mir, vorzugsweise wenn ich Türen öffnete. Zweifellos ein wichtiges Symbol. Ich öffnete also z.B. abends meine Zimmertür und hatte plötzlich sehr klar und deutlich das Gesicht von Matthias vor Augen: blau, verquollen, verzerrt durch den Todeskampf, den er durchlitten hatte.

Die langsameren Krebstode dagegen waren vor allem geprägt durch Gefühle der Ohnmacht und des sich nähernden Verlustes, der Hilflosigkeit, einem Menschen, der mir nahe steht, nicht helfen und ihn vor Leiden bewahren zu können, aber auch des Abschiedes und letztlich des Friedens.

Meine intensivste Trauererfahrung jedoch durchlebte ich nicht durch einen Tod, sondern durch die Geburt meines Sohnes Avid, durch die Gegenwart des Todes und die Möglichkeit des Verlustes. Avid wurde in der fünfundzwanzigsten Schwangerschaftswoche aufgrund einer schweren Infektion durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Dies überstand er überraschend gut, doch ein knappes halbes Jahr nach seiner Geburt wurde – im Übrigen unabhängig von den Umständen seiner Geburt - eine Hämangiomatose der Leber diagnostiziert, d.h. im Gewebe seiner Leber befanden sich zehn jener an sich gutartigen Tumore, die als „Blutschwämmchen“ bekannt sind. Ob mein Sohn diese Erkrankung überleben würde, galt nach Expertenmeinung zunächst als ungewiss.


Die Gegenwart des Todes

Indem wir leben, ist uns der Tod gewiss. Unser Leben ist ein Dasein hin zum Tod. Das wusste ich immer, seit ich wusste, was der Tod ist - intellektuell zumindest. Doch der Intellekt allein scheint nicht ausreichend, denn all unser Denken gleicht auch einem Schlangengewimmel, das uns in giftige Illusionen und romantische Traumwelten entführen kann. Wir glauben etwas zu wissen, doch in Wahrheit fantasieren wir nur und erklären uns die Dinge so, wie sie unseren Wünschen oder Befürchtungen am passendsten oder trostreichsten erscheinen. Wir sind gar sosehr in Fantasien darüber, wer wir sind und was die Welt sei, verstrickt, dass die Vielzahl unserer Ängste, Wünsche, positiven und negativen Emotionen aus all diesem Denken und Bewerten überhaupt hervorgeht und uns in einer Art Rückkoppelung dann wiederum in unseren Sichtweisen bestärkt. So sind wir Gefangene einer Vielzahl von Konzepten, die einzig in unserem Geist bestehen, und unser vermeintliches Wissen ist eine trennende Un-Kenntnis. Dies sind nach buddhistischer Auffassung die Grundzüge eines Prozesses, der als Samsara bezeichnet wird.

Samsara, das ist die illusionäre Welt des Leidens. Anders, als dies im Westen heutzutage üblich und weit verbreitet ist, gelten nach buddhistischer Auffassung Geist und Emotion oder Kopf und Bauch nicht als getrennte oder sogar gegensätzliche Bereiche, sondern als Aspekte des Geistes, die aufs Engste miteinander verknüpft sind und einander hervorbringen. Der Begriff „Geist“ wird in diesem Zusammenhang in zwei Aspekte unterteilt: Diskursiver Geist oder auch „Geist in Bewegung“ und „Geist an sich“. Andere Bezeichnungen für „Geist an sich“ sind „Natur des Geistes“ oder auch „klares Licht“. Der Geist, der als Ort der „Geistesgifte“ genannt wird, ist der „Geist in Bewegung“, d.h. der Bereich des diskursiven Denkens und der damit verbundenen ichbezogenen Wahrnehmung. Dies ist die gedankliche Tätigkeit, mit der die wahrgenommenen Erscheinungen gegenübergestellt, verglichen, gebilligt, verworfen und klassifiziert werden. Mit diesen Mitteln wird eine virtuelle Welt der Grenzziehungen errichtet. Unentwegt werden hierbei Grenzen zwischen Individuen, zwischen diesen und jenen Religionen oder sonstigen Weltanschauungen, diesem und jenem Volk etc. gezogen. Innerhalb dieser Begrenzungen wird dann von den Individuen die Festlegung eines Standpunktes eingefordert oder vom wahrnehmenden Individuum Zuordnungen vorgenommen.

Traditionell werden als Grundlage dieses Prozesses, aus dem die samsarischen Lebenswelten hervorgehen, die so genannten drei Wurzelgifte beschrieben: Gier/Anhaftung, Hass/ Ablehnung und Verblendung/Ignoranz. Die Gifte erzeugen sich innerhalb des diskursiven Geistes immerfort gegenseitig. Ignoranz bedeutet, dass unser Blick verschlossen ist für die offene, dynamische Natur der Existenz, in der alle Erscheinungen und Daseinsfaktoren ausschließlich in gegenseitiger Abhängigkeit existieren. Unabhängig und eigenständig existierende, also geschlossene Systeme im Sinne eines „Selbst“ gibt es nicht. Doch eben diese Annahme eines Selbst gilt als wichtigste Grundvoraussetzung der leidhaften Illusion, Samsara. Aus dem Glauben an ein eigenständig existierendes Selbst geht die Anhaftung hervor, d.h. der Wunsch, solche Dinge zu berühren und zu besitzen, die das dualistisch wertende Bewusstsein als begehrenswert betrachtet. Und aus dem Glauben an ein Selbst geht gleichermaßen auch die Abneigung gegen all das, was Unlust erzeugt und von Objekten der Anhaftung trennt, hervor. Anhaftung und Abneigung wiederum bestärken in ihrem Zusammenwirken die Ignoranz.

Hier nun gilt es noch einen weiteren, recht bekannten, doch oft falsch verstandenen Begriff zu erläutern, nämlich den Terminus Karma. Dieses aus dem Sanskrit stammende Wort bedeutet wörtlich „Tat“. Der Terminus bezeichnet im buddhistischen Kontext eine Art Impuls, der aus dem handelnden Zusammenspiel der drei Daseinsebenen Körper, Energie (Rede) und Geist eines in der dualistischen Illusion gefangenen Individuums hervorgeht. Im Bewusstseinskontinuum bleibt dieser Impuls wie ein Samenkorn bewahrt und gelangt schließlich zu einem ihm entsprechenden Zeitpunkt unter dem Einfluss passender sekundärer Ursachen als Ereignis zur Reife. Die Gesamtheit der individuellen Lebens- und Erlebenswelten ist das Resultat von Karma und alles Handeln, das auf der dualistischen Illusion fußt, ist die Ursache weiteren Karmas. Karma wird verglichen mit dem Wind. Es ist ein Wind, der die Daseinsfaktoren zu neuen Lebenswelten, Ereignissen, Wahrnehmungen und Individuen zusammenfügt. So ist der Mensch, der jetzt da ist, das Produkt aller vorangegangenen Taten. Er ist damit jedoch nicht in fatalistischer Weise einem Schicksal ausgeliefert, sondern kann in den Strom des Karmas ändernd eingreifen. Karma ließe sich auch definieren als die Summe der bewussten und unbewussten Denk- und Handlungsgewohntheiten, die spezifisch gefärbte Wirklichkeiten hervorbringen. Ein adäquates Bild hierfür wäre vielleicht ein Zug: Auf den Schienen seiner Denk- und Handlungsgewohnheiten gelangt der Zug des Bewusstseins in immer neue Erlebnislandschaften, während durch den Zustand der dualistischen Un-Kenntnis verborgen bleibt, dass Zug, Schienen und Landschaft eine untrennbare Einheit bilden. Ändert sich das Denken und Handeln, so ändert sich allmählich auch die erlebte Wirklichkeit.

Auf den ersten Blick ist das philosophische Konzept Karma sicherlich nicht ganz einfach zu verstehen, es lässt sich jedoch auch vereinfacht umreißen als ein Handeln, das aus dem Zusammenspiel der Geistesgifte, bzw. aus einem durch die Geistesgifte konditionierten Bewusstsein entspringt und seinerseits einen nachhaltigen Einfluss auf die durch dieses Bewusstsein erlebte Lebenswelt auswirkt. Innerhalb der buddhistischen Philosophie ist das Karma von so grundlegender Bedeutung, dass der Dalai Lama es als zentrale Erkenntniskategorie dessen sieht, was im Buddhismus als „Empfindungsvermögen“ bezeichnet wird, und er definiert es als „die Verbindung von Energie und Bewusstsein“.

Der dritte unabdingbare buddhistische Terminus ist Bodhicitta. Die wörtliche Bedeutung des Sanskritwortes Bodhicitta ist „Erleuchtungsgeist“. Im Wesentlichen bezeichnet dieser Begriff eine Form der Introspektion: Gezielt wird der Geist darin geschult, sich nach Innen zu wenden und sich über die eigenen Absichten und Motivationen klar zu werden. Werden schlechte Gedanken entdeckt, d.h. solche, die von selbstsüchtigen Motiven geprägt sind, so werden sie enthüllt, als Ursachen negativer Handlungen erkannt und aufgelöst. Man erkennt, dass derartige Gedanken die Ursache negativer Handlungen werden können, und man lässt zu, dass sie sich in ihre Dimension auflösen. An ihrer Stelle werden gute Gedanken hervorgebracht, die dem Grundsatz der Selbstlosigkeit entsprechen. Bodhicitta ist die Essenz von Mitgefühl, das ist der Wunsch, für alle Wesen von Nutzen zu sein. Bodhicitta zu kultivieren bedeutet, allen Handlungen und allem Denken diesen Wunsch zugrunde zu legen.

Es werden zwei Arten von Bodhicitta unterschieden, nämlich Bodhicitta der Absicht und Bodhicitta der Anwendung. Das Bodhicitta der Absicht ist mit der Meditation über die Vier Unermesslichen verknüpft: Unermessliche liebende Güte, unermessliches Mitgefühl, unermessliche mitfühlende Freude und unermessliche Unparteilichkeit. Das Bodhicitta der Anwendung besteht darin, das eigene Verhalten in der schrittweisen Übung der sechs Paramitas oder Vollkommenheiten zu schulen. Die Paramitas sind Großzügigkeit, Ethik, Geduld, freudige Anstrengung, meditative Stabilität und unterscheidende Weisheit.


Die libidinöse Besetzung im samsarischen Gaukelspiel

Meine tiefste Trauer betraf ein Ereignis, das einer der glücklichsten Momente meines Lebens hätte werden sollen. Avid ist ein wirkliches Wunschkind. Viele Paare wünschen sich jahrelang ein Kind und es klappt nicht. Viele Paare sind unfruchtbar. Viele Männer haben zu wenig gesunde Spermien. Solche und ähnliche Gedanken gingen uns durch den Kopf und wir sprachen von einem Gottesurteil. Das Urteil war schnell gefällt und es lautete, dass wir uns nicht lange vergeblich zu bemühen hätten.

Irgendwann im Frühsommer sitzen wir Apfelschorle trinkend in der Sonne, als Esther der Gedanke kommt, was wohl wäre, würde unser Kind behindert geboren. Mir scheint die Antwort so klar: Wir sind als Eltern das Tor, durch das ein empfindendes Wesen in die Welt tritt. Ob das Kind in eine schöne Welt tritt und ob es die Kraft besitzt, die Hindernisse auf seinem Lebensweg zu überwinden, liegt auch bis zu einem gewissen Grade in unserer Verantwortung. Alles ist Karma, auch eine mögliche Behinderung. Unsere Aufgabe ist es, unter allen Umständen aus ganzem Herzen das Beste für unser Kind zu tun, es auf seinen Weg zu führen und ihm möglichst viel positive Kraft mitzugeben. Dies stellt auch eine tiefgründige spirituelle Praxis dar. Gute Eltern werden wir dann, wenn wir aufrichtig und kompromisslos die Vier Unermesslichen und die sechs Paramitas üben. Im Übrigen vertrete ich die Ansicht, dass wir nicht zu sehr über so etwas ins Grübeln geraten sollten. Keine Hoffnung, keine Furcht, denn zur rechten Zeit gelangt alles in vollkommener Weise zur Reife und wir haben eine Möglichkeit, uns weiter zu entwickeln.

Wir verbringen einen schönen Sommer, reisen nach Kanada, bereiten vor, träumen von unseren bevorstehenden Aufgaben und all der Schönheit, die da auf uns zukommt. Wir ergehen uns auch nicht in übertriebenen Hoffnungen und Ängsten, sondern denken vor allem daran, wie wir dem Kind von Anfang an Geborgenheit und Wärme vermitteln können, beschäftigen uns mit Kindererziehung, informieren uns über die Entwicklungsschritte bis zum fünften Lebensjahr, die optimale Ernährung und denken über Hechelkurse nach. Wir haben es dabei auch nicht übertrieben eilig, denn der errechnete Termin ist der 22. Dezember und bis dahin ist ja noch ein bisschen Zeit. Da wir beide einige Wochen zu früh zur Welt gekommen sind, denke ich daran, dass Avid ja vielleicht Anfang oder Mitte Dezember kommen würde. Dann wäre er ein Schütze, so wie ich, und alles wäre perfekt.

Trauer gilt als eine Reaktion auf einen Verlust. Insbesondere betrifft dies den Verlust eines geliebten Menschen durch dessen Tod. In seiner Schrift „Trauer und Melancholie“ definiert Sigmund Freud 1916 :

„Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“

Freud zufolge werden die psychischen Energien des Trauernden vollkommen durch die Beschäftigung mit dem oder der Verstorbenen absorbiert. Er erklärt dieses als Präokkupation bezeichnete Phänomen durch sein Konzept der Libidinösen Besetzung. Dieses Konzept besagt, dass Menschen durch Liebe oder Bindung ihre Libido - bei Freud die reine Triebenergie, in der späteren Psychoanalyse allgemeiner als psychische Energie beschrieben - auf andere Menschen oder deren psychischen Repräsentanzen wie Bilder oder Vorstellungen richten. Die libidinöse Bindung endet nicht mit dem Tod, sondern muss in einem langwierigen und schmerzhaften Prozess, von Freud als Trauerarbeit bezeichnet, vom Objekt abgelöst werden.

Der tiefenpsychologische Ansatz erscheint mir als sinnvolle Ergänzung zum buddhistischen Konzept der Drei Gifte. Ignoranz ist ein mangelndes Gewahrsein für die Konditionierung durch allzu starre Vorstellungen über Ereignisverläufe, im Falle von Esther und mir etwa die sichere Grundannahme eines „normalen“ Schwangerschaftsverlaufes und Geburtsprozesses. Aus dieser Grundannahme resultierten weitere idealisierte und als angenehm empfundene, emotional aufgeladene Szenen und Bilder – die libidinöse Besetzung der inneren Repräsentanzen nach Freud, im Buddhismus die Anhaftung.


Die Welt ist Wandlung

Eine der finstersten, doch auch lehrreichsten Zeiten meines Lebens beginnt an einem strahlenden, warmen Septemberwochenende im Jahre 2003. An diesem Sonntag, dem 14., ist der Himmel sehr klar und völlig wolkenlos, in Bodennähe ist es leicht diesig. Etwa um zehn Uhr erhalte ich einen Anruf aus dem Krankenhaus: Ich soll sofort kommen, mein Kind muss jetzt geholt werden. Ich gehe mit einem starrenden Blick durch die Wohnung. Die ganze Welt ist mir plötzlich wie ein Kino und ich stehe mittendrin und glotzte auf meinen Lebensfilm, inwendig völlig hohl und dumpf, ohne den Hauch einer Emotion. Ein irgendwie ungläubiges Empfinden bestenfalls, ganz unterschwellig. Dieses Gefühl, das sich dann einstellt, wenn man im Traum anfängt zu merken, dass man träumt.

Ich soll an diesem Mittag arbeiten. So greife ich also zum Telefon und rufe eine Kollegin an, um meine Schicht zu tauschen. Als ich ihre Stimme höre, kehre ich mit einem Mal in die Wirklichkeit zurück. Zu dieser Wirklichkeit mit ihren Notwendigkeiten gehört auch die Gegenwart einiger Möglichkeiten, die meine Welt erschüttern: Meine Frau oder unser Kind oder beide könnten jetzt sterben. Oder unser Sohn könnte durch seine frühe Geburt schwerste Schädigungen erleiden.

Ich entschuldige mich für die Störung und bitte Patricia, kurzfristig meine Schicht zu übernehmen, da ich ins Krankenhaus muss. In diesem Moment bricht mir die Stimme und als mich Patty mit ihrem warmen spanischen Akzent in einem mitfühlenden und besorgten Ton fragt, was passiert sei, werde ich von einem emotionalen Tsunami überrollt. Nicht länger fähig zu reden flüstere ich nach einer Pause nur, dass ich mich später melden werde. Als ich mich wieder gefasst habe rufe ich Insa an, eine andere gute Freundin, und bitte sie, mich ins Krankenhaus zu fahren. Auf dem Weg dorthin redet sie in ihrer eigenen Hilflosigkeit hohle Phrasen des Trostes, die mich allerdings nicht erreichen.

Alles ist so surreal. Nach einem Blasensprung in der fünfundzwanzigsten Schwangerschaftswoche, durch den in kleinen Mengen das Fruchtwasser verschwand, liegt Esther nun seit einigen Tagen mit einer schweren Infektion in der Frauenklinik. Tags zuvor hatte ich bei ihr gesessen, als sie gegen Abend beinahe gestorben wäre, denn der junge Arzt erkannte spät, fast zu spät, dass die Beschwerden seiner Patientin nicht etwa Hypochondrie, sondern das Resultat einer Lungenembolie waren. Als sich dann kurze Zeit später ein aufgeregtes Ärzteteam in einem anderen Raum um sie bemühte, wurde ganz beiläufig schließlich sogar noch ein kleiner Herzfehler entdeckt, eher unbedenklich in guten Zeiten, in dieser Situation jedoch bedrohlich. Inmitten der Maschinen, Schläuche und Ärzte und des Tumultes aus Stimmen, elektronischem Piepen und Herztönen des Kindes lag Esther, ganz ruhig und gefasst, bereit zu sterben, wenn es denn soweit sein sollte. Ihr wunderschönes Gesicht war wie gemalt, vollkommen entspannt schien sie vorwärts zu blicken, als stünde sie am Beginn einer Reise. Sie sah aus, als sei sie bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren und alles hinter sich zu lassen. Ich wurde schließlich von Esther fortgedrängt, von den Ärzten und Krankenschwestern aus dem kleinen Raum geschoben und in einem Krankenhausflur zurückgelassen, der sich, kaum beleuchtet, in Dunkelheit verlor.

Irgendwann am späten Abend, so gegen zehn vielleicht, kam ein Arzt zu mir und forderte mich auf, zu gehen. Ich solle etwas essen und schlafen. Man würde mich dann anrufen. Dann.

Im Kreißsaal dann halte ich Esthers Gesicht, während sich vor meinen Füßen eine Lache aus ihrem Blut bildet. Dann ein erstaunlich lautes Stimmchen. Der Chefarzt beglückwünscht mich und führt mich zu einem Frotteetuch, aus dem ein winziges Gesichtchen herausschreit, vielleicht so groß wie eine Nektarine. Die Schreie werden immer kurz unterbrochen, wenn dem kleinen Wesen neue Luft in die Lungen gepumpt wird. Für Momente öffnen sich die vollkommen dunklen Augen. Dann wird das Bündel fort getragen.

Esther und Avid werden mit Antibiotika behandelt und die so bedrohliche Infektion ist bemerkenswert schnell besiegt. Drei Tage nach seiner Geburt sitzen wir auf der Kinderintensivstation am Inkubator und betrachten dieses winzige Kind, das durch das anstrengende Atmen auch noch Gewicht verloren hat und nur zarte 700 Gramm wiegt – mal gerade etwas mehr als ein Päckchen Zucker -, als uns eine Schwester mitteilt, dass sie Esther unser Kind jetzt einmal auf die Brust legen könne. Dort liegt es dann und wimmert mit einem sehr feinen und klaren Stimmchen, das Gesichtchen und die winzige linke Hand, gerade so groß wie die Spitze meines Zeigefingers, schauen aus Esthers Bademantel, während uns diese Begegnung mit unserem Kind zutiefst erschüttert und wir um Avid und die Umstände seiner Geburt weinen.

Meine persönliche Trauer resultierte aus einer sehr plötzlichen Zerstörung der besten Wünsche, die ich für mein Kind hatte. Über Monate hinweg war ich ganz einfach von einer „normalen“ Geburt ausgegangen. Meine Tagträume hatten das Bild eines drallen Babys gezeichnet, das kurz nach seiner Geburt an Esthers Brust gelegt wird und glücklich trinkt. Ich hatte über Monate die psychischen Repräsentanzen meines Kindes mit psychischer Energie gefüllt. Statt dessen war mein Kind kaum größer als meine Hand, musste über eine Magensonde ernährt werden, da es noch nicht fähig war zu trinken: Zu Beginn alle zwei Stunden zwei Milliliter. Sobald Esthers Behandlung mit dem Antibiotikum beendet war, kämpfte sie viermal täglich über den Tag und die Nacht verteilt darum, mittels einer Pumpe so viel Milch wie möglich aus ihrer Brust zu holen und war verzweifelt dabei, denn es schien immer zu wenig zu sein, obwohl es doch reichte. Und immer wieder setzte die Atmung des Kleinen einfach aus, er wurde dadurch erst grau, dann blau und musste schnell geweckt und an das Atmen erinnert werden, weil es im Grunde dazu noch viel zu früh war. Und er hatte Herzrhythmusstörungen. Seine Gesundheit und sein Leben hingen an einem seidenen Faden.

Für all die glücklichen Bilder gibt es keine Garantie, sie sind nur Teil unserer Phantasien. Die Welt ist ein dynamischer Prozess und die Ereignisse können jederzeit gänzlich unerwartete Wendungen nehmen. Und bei allem ist der Tod unser Begleiter. Wir wissen nicht, wann er uns ereilt. Was also lässt uns mit solcher Sicherheit glauben, wir würden den nächsten Morgen sehen? Ignoranz, sagt der Buddhismus. Treffen wir aber auf die wirkliche Welt, dann werden unsere Konstruktionen erschüttert und brechen zusammen. Unser Leben ist eben so: Nichts, gar nichts hat Dauer. Vom Buddha ist folgender Ausspruch überliefert :

„Unser ganzes Dasein ist flüchtig
wie Wolken im Herbst;
Geburt und Tod der Wesen
erscheinen wie Bewegungen im Tanz.
Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel,
es rauscht vorbei
wie ein Sturzbach den Berg hinab.“

Den buddhistischen Lehren zufolge lassen sich über den Tod zwei sichere Aussagen machen: 1. Es ist sicher, dass wir sterben werden und 2. es ist unsicher, wann oder wie wir sterben werden. Aus diesem Grund gilt die Meditation über den Tod als eine der höchsten. Die Achtsamkeit auf die Vergänglichkeit und den Tod hilft dabei, dem Dasein Sinn und Nutzen zu verleihen. Es hilft außerdem bei der Entwicklung wichtiger Qualitäten, wie etwa der Fähigkeit zu liebevoller Zuwendung, dem Mitgefühl oder der Mitfreude.

In meinem Fall war meine Lebenswelt erschüttert worden. Dies führte dazu, dass allzu starre Vorstellungen zerbrachen. An ihre Stelle traten nun neue Erfahrungsqualitäten, die sehr viel unmittelbarer waren. Ungefähr eine Woche nach Avids Geburt, etwa zwei Tage, nachdem er zum ersten Mal auf Esthers Brust gelegen hatte, stellte ich eine wichtige Veränderung an mir fest. Ich fuhr für zwei Tage zu einer buddhistischen Veranstaltung in der Nähe von Düsseldorf. Unterwegs musste ich auf irgendeinem Bahnhof in einen anderen Zug umsteigen. Auf dem Weg zum anderen Gleis standen verschiedene Menschen an ungünstigen Stellen des Bahnhofes unachtsam im Weg herum und versperrten den Durchgang. Üblicherweise war dies stets etwas, worüber ich mich sehr ärgern konnte. Ich bin im Grunde ein ungeduldiger Mensch und solche Situationen brachten kübelweise Negativität gegenüber diesen fremden Menschen in mein Bewusstsein. Jetzt aber hatte sich das geändert. In einem Augenblick sah ich all diese Menschen als mein Kind. Ich hatte ein Verständnis für ihre Verletzlichkeit, ihre Vergänglichkeit, für ihre Ängste und Schwächen. Und ich hatte Geduld.

Ist die Konstruktion einer ganzen Welt zusammengebrochen, dann kann man sehr darunter leiden oder man kann wertvolle Erkenntnisse gewinnen. In unserem Falle bahnt sich nach der ersten Erschütterung eine zweite in Form mehrerer kleiner und eines großen Hämangioms – so genannte Blutschwämmchen - an, die auf unserem Baby wachsen. Vollkommen unbedenklich, wird uns erklärt, die verschwinden innerhalb der ersten zwei Lebensjahre von ganz allein.

Mitte Januar träume ich dann, dass der Kleine stirbt. Zwei Alpträume in der gleichen Nacht, jedes mal erwache ich schweißnass. Derart beunruhigt bestehe ich darauf, dass Avid noch einmal untersucht wird. Bei der Ultraschalluntersuchung werden zehn dieser Tumore in seiner Leber entdeckt. Der Experte des Uniklinikums teilt uns auf der onkologischen Station mit, wie er die Erkrankung mit ungeheuer hoch dosiertem Cortison behandeln will. Ob es Avid retten wird, kann er uns nicht sagen. Vielleicht haben wir Glück und die Erkrankung wurde rechtzeitig entdeckt. In fünfzehn Jahren am Uniklinikum hätte er fünf derartige Fälle gehabt. Drei der Kinder seien gestorben.

Nach dieser Untersuchung muss ich zur Arbeit zurück. Esther fährt mich hin. Wir schweigen. Als ich aussteige, sehe ich sie an. Ihr Gesicht ist blass und wie versteinert, die Augen glasig. Der Kleine schläft. Ich habe ein Gefühl, als würde ich in der Mitte meiner Brust auseinander gerissen: Zu sehen, wie sehr Esther leidet, und zu wissen, was diesem zarten, hübschen Baby noch bevor steht, nachdem es doch bereits so viel hinter sich hat. Ich möchte mir den Brustkorb öffnen, um meine Frau und mein Kind auf mein Herz zu legen.

Emotionen waren früher eine Gefahr für mich. Ich fühlte mich ihnen ausgeliefert. Immer drohten sie mich zu zerreißen oder wie ein Sturm fort zu tragen. Unter buddhistischem Einfluss hat sich das durch eine Änderung der Sichtweise darauf, was Emotionen sind, geändert. Zunächst einmal erscheinen Emotionen dort als etwas Negatives – negativ in dem von mir gefürchteten Sinne. Sie gelten als Teil des diskursiven Geistes: Indem wir der Welt und uns selbst unsere Konzepte überstülpen, bringen wir die Emotionen hervor, die sich ihrerseits an den Konzepten orientieren, sie bestärken und neue Emotionen erzeugen.

Ein Beispiel für die Konditionierung durch Konzepte und Gedanken aus dem täglichen Leben: Die Made. Als kleines Kind liebte ich im Sommer die Himbeeren im Garten meiner Großtante. Ich pflückte sie vom Strauch, öffnete sie, nahm in vielen Fällen vorsichtig eine kleine weiße Made heraus und aß dann die Frucht. Mit der Made verband ich kein spezifisches Gefühl, außer, dass sie mir zart und hilflos erschien, weshalb ich ihr nicht wehtun wollte. Im Lauf der Jahre erlernte ich, dass Maden nicht gesellschaftsfähig sind. Ihnen haftet ein Makel an und sie gelten bisweilen als so ekelhaft, dass sie in vielen Menschen eine tiefe Abneigung verursachen. Irgendwann stellte ich dann fest, dass Maden auch mir Ekel verursachten und ich Himbeeren nicht mehr essen mochte, wenn sie einem solchen Würmchen einmal als Wohnsitz gedient hatten. Es waren die gleichen Maden und die gleichen Himbeeren, wie in meiner Kindheit, aber ich war durch erlernte Wertungen verändert, durch angeeignete Konzepte konditioniert, dafür im Besitz neuer Emotionen, die sich auf mein Handeln auswirkten. Was aber sind Emotionen ohne die Konzepte, die ihnen ihre spezifische Färbung verleihen? Energie, die wir nutzen können. Mir gelang es so, meine Trauer zu überwinden und für mein Kind da zu sein und diverse Probleme zu meistern. An die Stelle einer erschreckten Lähmung tritt die Fähigkeit, zu handeln.



Vom Zentrum des Universums und der Energie

Indem ich nicht länger bin, bin ich alles. Dieser Satz begleitet mich seit vielen Jahren und erscheint mir als eine Essenz des Buddhismus. Ich habe ihn immer als hilfreich und heilsam empfunden: Indem ich all die Vorstellungen und Denkgebilde auflöse, die mich so sehr im Griff haben, kann mein Geist eine heilsame Offenheit und kreative Präsenz entfalten, die alles zu integrieren vermag. Wird der Glaube an ein in sich abgeschlossenes Selbst beendet, so wird Anhaftung und Abneigung die Grundlage entzogen. Als eine der wichtigsten Eigenschaften eines offenen Geistes gilt die Fähigkeit zum Mitgefühl. Damit sind hierbei keineswegs sentimentale Gefühlswallungen gemeint, sondern eine so große Offenheit, dass die Zustände anderer Wesen ungehindert und ungekünstelt nachvollzogen und mitgefühlt werden können – ein tiefes Verstehen, das sich nicht auf den Intellekt beschränkt.

Bewusstsein ist im buddhistischen Verständnis gleichbedeutend mit dem Himmelsraum. Der diskursive Geist, die aus ihm hervorgehenden Gedanken und Emotionen, sowie alle Erscheinungen der von uns erlebten Welt werden mit Wolken verglichen, die am Himmel entstehen und vergehen: Die Welt ist ein Tanz energetischer Erscheinungen, die in stetem Wandel begriffen sind. Das Individuum verlässt damit die begrenzte Position eines getrennten und vereinzelten Selbst und erlangt einen sehr viel bedeutenderen Stellenwert: Es wird das Zentrum des von ihm erlebten Universums. Dies verschafft eine grundlegende Stabilität, die es ermöglicht, lähmende, beengende Zustände, Depressionen und Trauer zu erkennen und in frische Energie umzuwandeln.



Meditationen

Die buddhistische Philosophie fußt auf der meditativen Praxis. Philosophie ohne die dazugehörende Erfahrung durch Praxis ist nicht viel mehr, als Gerede. Alle buddhistischen Schulen heben die wichtige Bedeutung der persönlichen Erfahrung durch die Praxis hervor.
Im Folgenden umreiße ich einige Methoden der allgemeinen buddhistischen Meditation, die mir selbst in schwierigen Situationen zu Stabilität und Klarheit verholfen haben. Aufgrund meiner eignen Erfahrungen halte ich sie für Trauer- und Sterbebegleiter, wie auch für Trauernde und Sterbende für hilfreich. Die Begleiter mögen sie in ihrer schwierigen Aufgabe unterstützen und ihnen zu mehr Kraft und Offenheit verhelfen. Die Trauernden können derlei Methoden und Kontemplationen in der Trauerarbeit unterstützen. Den Sterbenden schließlich vermögen sie spirituelle Unterstützung und Zuversicht zu vermitteln.

1. Konzentrative Meditation
1.1 Grundlagen
Die Praxis der konzentrativen Meditation (tib. Shine, skt. Shamata) bildet die Grundlage aller meditatitven Praktiken. Wichtig ist es hierbei, eine stabile Sitzhaltung einzunehmen, bei der der Rücken gerade ist. Blick wird hierbei leicht gesenkt, so dass man auf einen imaginären Punkt vier Fingerbreit vor der Nasenspitze blickt. Die Lippen berühren sich leicht, zwischen den Zähnen bleibt ein Spalt und die Zunge berührt den Gaumen.

Nun wird der Geist beobachtet, wobei man der Vergangenheit nicht nachhängt und nicht in die Zukunft vorauseilt. Das Vergangene ist vorbei und das Zukünftige nicht da. Einzig das nichtbegriffliche Gegenwartsbewusstsein ist von Belang. Gedanken, die auftauchen, folgt man nicht und man versucht auch nicht, sie zu verdrängen. Einzig ihr Entstehen und Vergehen wird beobachtet. Das Absinken in tranceartige Zustände ist ein Fehler. Geübt wird eine klare, nicht abgelenkte Präsenz. Man beginnt mit kurzen Übungssequenzen von etwa drei Minuten, die langsam in Schritten von jeweils einer Minute gesteigert werden können.

1.2 Konzentration auf ein äußeres Objekt
Hierbei findet ein beliebiges Objekt, etwa ein Berg, ein Kieselstein, eine Blume o.ä. Verwendung. Man nimmt die stabile Haltung ein und richtet nun den Geist unzerstreut und entspannt auf das Objekt, das hierbei lediglich als Erinnerungsstütze, um die Geistesgegenwart nicht zu vergessen. Über das Objekt selbst gibt es nichts zu meditieren. Es ist wichtig, entspannt, einsgerichtet und gelöst bei dem Hilfsobjekt zu verweilen, ohne von anderen Objekten abgelenkt zu werden. Ist man zu verkrampft, vermehrt sich die gedankliche Aktivität .

Wird das Objekt nach einer Weile unstetig oder unsichtbar oder kommt es zu unwillkürlichen Augenbewegungen, dann wird die Sitzung beendet, indem man einfach geradeaus in den Raum blickt, ohne sich noch weiter um das Objekt zu kümmern, und den Geist in sich selbst entspannen lässt. Die Geistesgegenwart wird beibehalten.

1.3 Konzentration auf den Atem
Nachdem die stabile Position eingenommen wurde, konzentriert man sich auf den Atem, indem man den Geist auf die Empfindung richtet, die im vorderen Teil der Nasenlöcher bei den Atemzügen entsteht. Der Atem ist tief , entspannt und ungekünstelt. Nun beginnt man zu zählen, einmal einatmen und einmal ausatmen entspricht einem ganzen Atemzug, der gezählt wird. Man zählt bis einundzwanzig und beginnt dann wieder bei eins. Vergisst man, bis wo man gerade gezählt hat, dann beginnt man auch wieder bei eins. Diese Übung ist hervorragend zur Beruhigung geeignet.

1.4 Konzentration auf ein inneres Objekt
In der stabilen Position visualisiert man den eigenen Körper als hell und durchsichtig. In der Körpermitte, bzw. im Herzen befindet sich ein strahlender Lichtpunkt von der Größe einer Erbse. Nun löst man zunächst die gesamte Umgebung in Licht auf, so dass man sich im unbegrenzten Raum befindet, der einem wolkenlosen Himmel gleicht. Schließlich löst man auch den eigenen Körper in Licht auf, lässt aber den Geist auf dem leuchtenden Punkt ruhen und behält die klare Geistesgegenwart bei.

2. Die vier Unermesslichen
- Unermessliche Unparteilichkeit: Man vergegenwärtigt sich, dass alle Wesen gleichermaßen Glück suchen und leidhafte Zustände vermeiden wollen. Es gibt keine Unterschiede darin, sie sind alle gleich.

Eine andere Vergegenwärtigung besteht darin, Feinde als Lehrer zu begreifen. Das Schlechte, das sie einem antun, ist ein Werkzeug, um die Fähigkeiten zu tieferer Einsicht zu entwickeln. Ungerechte Anschuldigungen dienen dazu, sich selbst in positivem Verhalten zu üben. Die Feinde und Hindernisbereiter sind daher Meister, die das Gebäude der Anhaftungen zum Einsturz bringen.

- Unermessliche liebende Güte: Man erinnert sich ganz bildlich an die Liebe eines Menschen, durch die man sehr berührt wurde. Dabei lässt man das Gefühl der Liebe ganz intensiv im Herzen aufsteigen und ganz natürlich zu dem Menschen, der es hervorgerufen hat, zurückfließen. Ist diese Vergegenwärtigung des Gefühls der Liebe stabil, dann kann es ausgeweitet werden auf alle Wesen. Zunächst auf Freunde und Verwandte, dann auf Nachbarn und Fremde, schließlich auf die, mit denen man Schwierigkeiten hat oder die man nicht mag, dann auf „Feinde“ und zu guter letzt auf das ganze Universum.

- Unermessliches Mitgefühl: Man denkt an ein leidendes Wesen, etwa an einen Kriminellen, der auf seine Hinrichtung wartet, oder an ein Tier beim Metzger, das geschlachtet werden soll. Dann identifiziert man sich damit und denkt: „Was soll ich nur tun? Ich habe keinen Ort, an den ich flüchten oder wo ich mich verstecken könnte, ich bin ohne Zuflucht und ohne Retter!“ So übernimmt man das Leiden, bis man Angst verspürt. Nun setzt man dieses Wesen gleich mit dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter und denkt: „Meine Mutter oder mein Vater befindet sich in einer sehr leidvollen Situation, in der sie/er das Leben verlieren wird, obwohl sie/er gar nichts Böses getan hat. Wie sehr sie/er leidet! Was würde ich nur alles tun, um sie/ihn von all dem Leid zu befreien!“

Indem man so übt, entsteht ein so starkes Mitgefühl, dass es schwer wird, es zu ertragen. An dem entspannt man sich in einen Zustand jenseits aller Konzepte und richtet den Blick in den offenen Raum.

Dann übt man mit denen, die man als Feinde empfindet. Auch die werden mit den eigenen Eltern gleichgesetzt. Schließlich dehnt man diese Kontemplation auf immer mehr Wesen aus. Dann denkt man, dass man sich nichts sehnlicher wünscht, als all diese Wesen von ihren Leiden zu befreien.

Danach entspannt man sich in klare, gleichmütige Geistesgegenwart.

- Unermessliche Mitfreude: Dies ist der Wunsch, alle Arten von Eifersucht und Konkurrenzdenken gegenüber anderen zu überwinden. Man wählt als Objekte Menschen, die durch Geburt, Reichtum oder Macht anderen überlegen sind und freut sich der Vorzüge, die sie genießen. Man beginnt mit einem Freund, fährt dann fort mit einer neutralen Person und übt schließlich mit einem „Feind“.

3. Tonglen
Die Meditation der liebenden Güte weckt und stärkt die Fähigkeit, Liebe zu geben und zu empfangen. Die folgende Methode geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie zielt auf das Erlöschen der Quelle allen Leids, nämlich den Glauben an die Existenz eines selbstsüchtigen Ichs und die Identifikation damit.

Tonglen ist die Meditation des Gebens und Nehmens. Sie gilt als besonders geeignet, Leiden zu transformieren. Um diese Meditation praktizieren zu können, soll man mit der Praxis der Vier Unermesslichen, insbesondere mit Übungen des Mitgefühls sehr vertraut sein. Außerdem ist es wichtig, eine stabile Erfahrung des nichtkonzeptuellen Bewusstseins, der „Natur des Geistes“ zu haben.

Bei dieser Meditation nimmt man mit dem Atem die Leiden anderer auf und gibt ihnen im Ausatmen den eigenen geistigen Frieden, das eigene Glück und Wohlbefinden.

3.1 Tonglen für das geistige und physische Umfeld
Diese Tonglen-Übung wird zur Transformation einer unangenehmen, angespannte Atmosphäre in der physischen Umgebung und im eigenen Geist angewandt. Man beginnt, indem man sich sammelt, still meditiert und die Motivation des Mitgefühls in sich wachruft. Im Sitzen erspürt man dann die Stimmung und Atmosphäre der Umgebung und des eigenen Geistes. Man stellt sich dann vor, wie die innerste Weisheitsessenz klares, unvoreingenommenes und liebevolles Mitgefühl ausstrahlt. Ist die gegenwärtige Laune oder das Umfeld düster und unangenehm, dann absorbiert man alles Unheilsame beim Einatmen in Form einer dunklen Wolke auf, die dann von dem Strahlen im Herzzentrum transformiert wird, ähnlich wie heiße Luft von einer Klimaanlage abgekühlt wird. Mit jedem Ausatmen verströmt man Ruhe, Klarheit, Gelassenheit und Freude in Form von Licht, das die Atmosphäre erfüllt.

3.2 Tonglen für sich selbst
Hierbei teilt man sich in zwei Aspekte auf. A, der heile, warme, liebevolle und mitfühlende Aspekt, immer offen, alle Fehler verzeihend, sitzt auf dem Meditationssitz. A ist der eigene reine Aspekt, die Manifestation von Mitgefühl. Ihm sitzt Aspekt B gegenüber, die alltägliche Persönlichkeit, die bekümmert oder würtend ist, diejenigen verletzt wurde, sich missverstanden und frustriert fühlt, verbittert und zornig ist, körperliche Krankheit oder Trauer erlebt etc. Während man B nun in seinem Leid betrachtet, entwickelt man Wärme, Freundschaft, bedingungslose Liebe und Mitgefühl. Man hat Verständnis für das Leid dieses anderen Teils der eigenen Persönlichkeit und akzeptiert es. Man stellt sich dann vor, wie das Leid des gewöhnlichen Ichs die Form einer dunklen Wolke annimmt. Einatmend nimmt man diese Wolke in sich auf, wobei sie alle Spuren des egoistischen Greifens beseitigt und im Herz das reine Bodhicitta, die gleißende Quelle von Weisheit und Mitgefühl, freilegt, das dadurch immer stärker strahlt. Ausatmend stellt man sich dann vor, wie man seinem leidenden Aspekt Verständnis, Freude, bedingungslose Liebe, Gelassenheit und Frieden in Form von Licht überträgt. Mit jedem Atemzug wird der gewöhnliche Aspekt damit lichter, bis die beiden Aspekte einander gleich geworden sind. Wenn man die Praxis beendet, so stellt man sich jedes Mal vor, dass sie vollständig gewirkt hat: Der gewöhnliche Aspekt ist von allem Leid befreit und strahlt vor Glück und Freude. Man löst die Visualisation dann auf und ruht in der Meditation.

3.3 Tonglen für andere
Um genügend Selbstvertrauen zu entwickeln beginnt man damit, dass man sich auf die Tonglen-Praxis wie folgt vorbereitet:
Man ruft im Raum vor sich ein erleuchtetes Wesen an, dem gegenüber man großes Vertrauen und Hingabe verspürt. Man bittet es dann, dass durch seinen Segen und seine Inspiration der Keim der eigenen mitfühlenden Essenz, das Bodhicitta, erweckt werden möge. Man visualisiert dann, wie das erleuchtete Wesen auf die Bitte reagiert und gewaltige Strahlen der Weisheit und des Mitgefühls aussendet, die mit einem selbst verschmelzen, alle Spuren der Selbstsucht bereinigen und im Herzen das Bodhicitta freilegen. Am Ende verschmilzt das Weisheitswesen mit einem und verbindet sich untrennbar mit dem eigenen Weisheitsgeist. Auf dieser Grundlage beginnt das Tonglen.

Man stellt sich vor, das jemand vor einem sitzt, den man kennt und der jetzt leidet und Schmerzen hat. Einatmend stellt man sich vor, wie man all seinen Schmerz voller Mitgefühl in sich aufnimmt, es transformiert und ausatmend Heilung, Freude, Wärme, Zuversicht, Energie und Glück in ihn verströmt. Man kann sich auch vorstellen, dass man selbst während der Meditation zu einem wunscherfüllenden Juwel wird, dass alle Wünsche und Bedürfnisse der Person, für die praktiziert wird, mühelos und spontan erfüllen kann. Am Ende der Praxis stellt man sich vor, dass alles Leid dieser Person samt seinen Ursachen vollständig beseitigt wurde.

Man kann diese Übung auch schrittweise erweitern. Man beginnt dann mit jemandem, den man sehr mag, wird sich dessen Leides bewusst, nimmt es auf und transformiert es. Man weitet dann den Kreis des Mitgefühls aus, indem man weitere Menschen einschließt, die man mag, dann solche, die einem gleichgültig sind, danach auch solche, die man nicht mag, und schließlich sogar solche, deren Verhalten einem wirklich als böse und grausam erscheint.

Am Ende jeder Meditationssitzung wird das Verdienst, das man mit dieser Praxis angesammelt hat, dem Wohl aller empfindenden Wesen.


Epilog

Avid ist heute, fünf Jahre später, ein gesundes, fröhliches und sehr aufgewecktes Kind. Er spricht zwei Sprachen, läuft, ist zwar zierlich und schlank, dennoch aber sehr stark und groß. Er ist geistig und motorisch ein gut entwickeltes Kind, das den Abstand zu seinen normal geborenen Altersgenossen vollkommen aufgeholt hat. Die Umstände seiner Geburt und den Horror seines ersten Lebensjahres merkt man ihm nicht mehr an. Unter seinen Ärzten gilt er deshalb ein wenig als ein medizinisches Wunder.

Esther und ich sind kein Paar mehr. Unsere Paarbeziehung hat die große Belastung und den kulturell und weltanschaulich sehr unterschiedlichen Umgang damit nicht verkraftet. Dennoch sind wir drei sehr eng und liebevoll miteinander verbunden, leben im gleichen Haus und sind eine Familie im besten Sinne des Wortes. Die beiden Lieben meines Lebens und ich.




Literatur
Dalai Lama
2006 Evolution und Karma: Mitgefühl passt nicht ins Bild der Biologie. In: Tibet und Buddhismus, XXI. Jahrgang, Nr. 77

Freud, Sigmund
1976 Trauer und Melancholie. In: Gesammelte Werke, Band 10. Frankfurt a.M.

Geshe Rabten
1995 Das Buch vom heilsamen Leben, vom Tod und der Wiedergeburt. Freiburg-Basel-Wien

Geshe Thubten Ngawang
1997 Vom Wandel des Geistes. München

Lammer, Kerstin
2003 Den Tod begreifen – Neue Wege in der Trauerbegleitung. Neukirchen-Vluyn
2004 Trauer verstehen. Neukirchen-Vluyn

Sogyal Rinpoche
1993 Das tibetische Buch vom Leben und Sterben. Bern-München-Wien

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